Alain erzählt

Von Antwerpen nach Attendorn!

Oder wie ich zum Pooskebruder wurde.

Interkulturelle Biografien Südwestfalen – Alains Geschichte aus Südwestfalen ist ein Zeugnis der regionalen, genauso wie der europäischen Geschichte. Von der Zeit beim belgischen Militär bis zum Pooskebruder. Was für eine Geschichte. Sie entstammt dem Projekt Erzähle Deine Geschichte, welches von der Autorin Barbara Peveling sowie dem Fotografen Dirk Vogel in Zusammenarbeit mit dem Verein Willkommen in Olpe e.V. ins Leben gerufen wurde. 

Ich bin in Gent, Belgien geboren.

Meine Mutter war eine Primaballerina in der Staatsoper von Gent, mein Vater dort Bariton. Die Oper war für mich damals ein riesiges Gebäude, im Barockstil erbaut und in den roten, großen Samt-Stühlen saß ich wie ein König. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie groß die Augen eines kleinen Jungen sind, wenn seine Mama in einem so imposanten Gebäude oben auf der Bühne tanzt?

Mein Vater ist in sehr jungem Alter verstorben. So kamen meine Schwester und ich in ein Internat, damit unsere Mutter weiterarbeiten konnte.

1961 lernte unsere Mutter ihren neuen Mann kennen. Er besaß eine spanische Kneipe, genannt „El Torro“. In der Kneipe war ein schwarzer, ausgestopfter Stier, wovor ich immer eine Heidenangst hatte. Er war lebensgroß und sah sehr echt aus. Ich bildete mir ein, wenn ich dran vorbei ging, das er sich bewegte… In dem Jahr heirateten die beiden und er hat uns adoptiert.

Wir sind dann nach Antwerpen umgezogen, wo dann auch mein 7 Jahre jüngerer Bruder zur Welt kam. Antwerpen ist eine wirklich schöne Stadt. Daher wahrscheinlich meine Affinität zu Köln. Beide liegen an einem Fluss, haben eine schöne Altstadt und einen Dom bzw. eine Kathedrale. Der Bahnhof ist ein technisches Wunderwerk. Die Züge kommen auf verschiedene Etagen hineingefahren. Dieses wurde alles im laufenden Betrieb umgebaut.

Hier habe ich dann auch meinem besten Freund in Belgien kennen und schätzen gelernt. Frank war 2 Jahre älter als ich und ich schaute auf ihn wie auf einen großen Bruder. Wir haben jahrelang immer sehr viel miteinander gemacht: Schule, Sport (Taekwondo), Freizeitaktivitäten. Später gingen wir zusammen aus und arbeiteten sogar eine Zeit lang zusammen in einem Supermarkt.

 

Alain, Attendorn, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel.

 

Da wir nur ca. 500 Meter von dem damals größten Stadion (RAFC Antwerpen) Belgiens entfernt wohnten, war es klar, dass ich als Kleiner in der Jugend von FC Antwerpen gespielt habe. Leider hatte ich nicht das Talent, um ein Großer zu werden. Bin bis zur mittleren Reife zur Schule gegangen, danach wollte ich nicht mehr.

Die letzten Jahre vor meinem Militärdienst habe ich bei eine Großküchenhersteller im Versand gearbeitet. Zuerst als Lagerarbeiter, dann in meinem letzten Jahr als Versandleiter.

Hier wurden die Bürgersteige um 21 Uhr hockgeklappt!

Ende August 1975 kam ich nach dreimonatiger Grundausbildung in die Kaserne nach Attendorn. Hier wurde ich im Dezember 18 Jahre alt. Mein erster Gedanke, als ich ankam, war: Wo bist Du hier gelandet? Das war von Antwerpen nach Attendorn drei Schritte rückwärts für einen jungen Kerl. Hier wurden die Bürgersteige um 21.00 Uhr hochgeklappt! Nachts zum Chinesen essen gehen, in die Disco oder Nachtkino, das gab es alles nicht. Der zweite Gedanke war: Schnell den Militärdienst absitzen und dann aber nichts wie weg hier, wieder zurück ins Leben!! Dass es dann anders kam, seht Ihr ja. Ich bin ja nach 46 Jahre immer noch hier.

Eine kleine Anekdote noch zu meiner Militärzeit: Ich war als Kaserne-Polizist und Telefonist eingesetzt und saß in einem kleinen Büro aus Holz im Bigge-Lager (an der alten Straße nach Finnentrop, da war die Bäckerei, Fleischerei und Gemüselager für die belgischen Einheiten in NRW). Genau gegenüber war damals ein Bahnübergang. Als ich dann so im Büro saß und nach draußen schaute, dachte ich: „Wenn hier mal einer geradeaus fährt, mäht er dich samt Häuschen voll um“. Und ein paar Jahre später bin ich genau da, auf gestreutem Sand, geradeaus gefahren und in das Wachhäuschen hinein gebrettert!

Irgendwann kam der Frühling, und damit einhergehend die Frühlingsgefühle…

Ich lernte in der Dorfdisco Babalou im Schwalbenohl (was eher eine umgebaute Kellerbar war, vielleicht kennt jemand die auch noch) meine erste Frau kennen. Babalou war ein kleiner Kellerraum, dunkel (was ja nicht schlimm war…), ca. 60 Quadratmeter mit ein paar Tischen, einer Mini-Tanzfläche und ein paar Funzeln in gelb, grün rot und blau als Beleuchtung. Da war es erst mal geschehen um meine Vorurteile, was Attendorn anging. Die Liebe verschließt einem schon mal die Augen.

In der Zeit habe ich als Maschinenbediener bei der Hoesch-Blefa gearbeitet. Mein erster Kontakt im Vereinsleben war der Taekwondo Verein Do-Jang, wo ich von 1978 bis 1983 als Kassierer und später auch zeitweise als Ersatztrainer tätig war. Nebenbei spielte ich eine Zeitlang Fußball in der  Hobbymannschaft Westfalia Attendorn. Da ich recht schnell laufen konnte, und wir damals nur auf Aschenplätze spielten, war ich des Öfteren beim Arzt, um mir die Steinchen aus der Haut zu entfernen. Der fragte mich dann jedes Mal: Na wieder mal hier, noch nicht genug davon? Da habe ich dann aufgehört, weil ich mir sagte, dass ich mich beim Kampfsport bis dahin noch nie verletzt hatte. Taekwondo haben wir 3-mal in der Woche trainiert und ich fuhr zusätzlich noch am Samstag zu unserem Meister Max Geburt nach Dortmund. 1983 habe ich dann die Schwarzgurt-Prüfung gemacht, musste dann aus zwei Gründe aufhören: Erstens aus gesundheitliche und zweitens, weil ich geschieden wurde und wieder zurück wollte nach Antwerpen.

Ich war 8 Jahre mit meiner ersten Frau verheiratet, wir hatten keine Kinder. Somit lief die Scheidung problemlos. Nach der Scheidung lebte ich wieder für ca. ein halbes Jahr in Belgien. Ich hatte fürs erste „Asyl“ bei meiner Schwester bekommen. Ich versuchte damals, wieder in meinem alten Beruf Fuß zu fassen, war aber zu lange raus. Da ich keine Möglichkeit sah, mich auch weiterzubilden, kam ich nach Deutschland zurück.

Ich hatte zwischenzeitig, nach der Scheidung, ein lockeres Verhältnis zu meiner zweiten Frau. Nach einer gewissen Zeit habe ich sie dann 1983 geheiratet. 1984 und 1986 kamen dann meine beiden Töchter Sandra und Sabrina auf die Welt.

Willst Du das dein Leben lang machen?

Zu der Zeit war ich bei einem Automobilzulieferer in Plettenberg als Maschinenbediener beschäftigt. Ich machte Akkordarbeit an einer Rahmenbiegemaschine. Hier wurde der Rahmen für den damaligen 3er BMW gefertigt. Das war, wie die meisten Akkordarbeiten sehr stupide. Damals habe ich mich dann irgendwann gefragt: Willst Du das dein Leben lang machen? Nee, habe ich mir gedacht und habe mich nach was anderem umgeschaut. Ich bekam dann die Möglichkeit, eine Umschulung als Industriemechaniker zu durchlaufen. Voraussetzung war, dass ich noch eine Arbeit nebenbei machte, sonst hätte ich mir das als Alleinverdiener mit zwei Kindern nicht erlauben können.

Als der Abschluss geschafft war, wollte ich unbedingt weitermachen. So habe ich mich bei der Handwerkskammer Olpe als Ausbilder weitergebildet. Ich habe dann ein Jahr als Ausbilder in einer Werkzeugfabrik in Attendorn gearbeitet. In den Pausen konnte man in den Aufenthaltsraum, obwohl ca. 30 Leute da saßen, einen Bleistift fallen hören. Es wurde Zeitung gelesen oder einfach nur dagesessen. Unterhalten hat sich kaum jemand. Hier hat es mir überhaupt nicht gefallen und ich sagte zu meiner damaligen Frau: Hier bleibe ich höchstens ein Jahr. Und tatsächlich kündigte ich ein Jahr später diese Stelle. Ich fing dann in Ennest bei einer Firma, die sich mit Rohrumformung beschäftigte, als Werkzeugmacher an. Zwei Jahre später habe ich den 4-Mann starken Werkzeugbau geleitet. Als ich bei dieser Firma beschäftigt war, habe ich mich bei den Berufsschulen des Kreises Olpe angemeldet, um die Ausbildung eines Maschinenbau Technikers zu vollenden. Vier harte Jahre, nämlich jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag nach Feierabend zur Schule. Dann natürlich abends noch lernen und konstruieren.

Als ich 1995 meinen Abschluss mit Gesamtnote 2 bestanden habe, war die Überlegung: Wie geht es jetzt weiter? Die Tendenz lag bei einem Fernstudium zum Maschinenbau-Ingenieur. Wir hatten aber an einem der letzten Schultage jemanden im Unterricht, der uns den Lehrgang „Technischer Betriebswirt“ nähergebracht hat. Das hatte mir gefallen, weil das quasi eine zweigleisige Geschichte ist und sowohl technische, als auch kaufmännische und betriebswirtschaftliche Themen geschult werden. Ich nahm es in Angriff und fuhr 2 Jahre lang jeden Samstag von 8 bis 17 Uhr nach Essen.

Den Abschluss machte ich dann in Dortmund bei der IHK. Für diese gesamte Ausbildungszeit von ca.10 Jahren musste ich, was Freizeit angeht, sehr zurückstecken. Erstens, weil das Geld ja ziemlich knapp war und zweitens, samstags zur Schule und sonntags gelernt werden musste.

Dezember 1997 fing ich dann in Lennestadt bei einem metallverarbeitenden Stanz – und Umformbetrieb mit Kunden in der Automobilindustrie als Einkäufer an. Als wir Ende 98 ein neues ERP System bekamen, habe ich hierfür die Verantwortung als Administrator übernommen und wurde später Leiter im Einkauf und IT. Hier arbeite ich bis heute noch und hoffentlich bis zu meiner Rente.

Da ich damals sicher war, in Attendorn bleiben zu wollen, beantragte ich die deutsche Staatsangehörigkeit. Ich bekam meine Einbürgerungsurkunde am 29. August 2000.

Im Jahre 2001 lernte ich meine jetzige Lebensgefährtin aus der verbotenen Stadt Olpe (;-) kennen. Wer sich im Kreis Olpe nicht so auskennt, dem sei Folgendes gesagt: Olpe ist die Kreisstadt und Attendorn die Hansestadt. Attendorn ist stolz darauf, älter zu sein als Olpe. Außerdem ist die Stadt Attendorn eine der reichsten Städte in NRW. Und weil ein Attendorner möglichst nicht das Wort Olpe im Mund nimmt, sagt er „die Verbotene Stadt am Vorstaubecken“. Es herrscht halt eine gewisse Rivalität. Heute bin ich Opa von 4 Enkelkindern, wie Orgelpfeifen, wenn sie nebeneinanderstehen.

Am schnellsten bekommt man Anschluss in der Gemeinschaft

Vor einigen Jahren habe ich mir überlegt, wie komme ich in Attendorn sozial mehr an.

Bis dahin war ich nur sportlich in Vereinen tätig, Do-Jang. das Studio Royal und bei SCSW Attendorn. Außerdem bin ich seit 50 Jahren glühender FC Köln Fan, seit fast 10 Jahren Mitglied und mache mehr als 12-15 Stadionbesuche pro Saison. Ich war vorige Woche das erste Mal wieder im Stadion gegen Bochum. Was war das ein Genuss, den Geruch von Bratwurst und Kölsch in meiner Nase zu haben. Dann diese geile Stimmung während des Spieles. Und zu guter Letzt einen Sieg, sowie drei Punkte mit nach Hause gebracht zu haben!

Wie das so ist, bekommt man am schnellstens Anschluss in der Gemeinschaft. Der erste Verein war dann aber eine Gesellschaft, nämlich: die Attendorner Schützengesellschaft 1222 e.V. Ein Jahr später wurde ich vom Pooskevater der Niederste Poorte zum Osterfeuer eingeladen und wurde als Pooskebruder angenommen. Ein Pooskebruder macht hauptsächlich Folgendes: Die letzten vier Samstage vor Ostern wird im Wald Holz gesammelt und zu Bürden gebunden und zum Osterfeuerkop (der Platz wo dann das Osterfeuer stattfindet) gebracht. Danach ist immer auch ein gemütliches Beisammensein angesagt. Ostersamstag wird ein Baumstamm (meistens ca. 28-30 Meter hoch) zum Marktplatz gebracht, wo die Länge offiziell gemessen wird. Die Poorte, die den längsten Stamm hat, wird geehrt. Es gibt in Attendorn 4 Poorten: Die Niederste, die Kölnerpoorte, die Wasserpoorte und die Ennester Poorte. Dann wird der Stamm auch zum Osterkop gebracht und das Kreuz gefertigt mit Latten und Stroh. Sonntagmittag wird dann allein mit der Kraft unserer Arme das Osterkreuz hochgezogen. Sonntagabend um ca. 21.00 Uhr, wenn das Kreuz auf den Kirchturm angeht, werden die Osterkreuze angesteckt. Montags trifft man sich dann zum Aufräumen. Ich bin auch aktiv in der SOKO Hüttenbau und in der Fronleichnamgruppe der Niedersten Poorte. Eine tolle Truppe, zwar die kleinste, aber die beste Poorte. Eine wirklich schöne Gemeinschaft.

Vor ca. drei Jahren bei eine Osterfeuer Veranstaltung wurden irgendwann auch Lieder am Lagerfeuer gesungen. Da sprach mich ein heutiger guter Freund und der erste Vorsitzende der MGV Sauerlandia an, ob ich nicht eintreten wollte. Gefragt, getan und wenig später trat ich auch in die Sauerlandia ein. Die Sauerlandia ist eine Männergesangsverein. Seit fast 100 Jahren verbindet die Sauerlandia alt und jung: (etwas) ältere und junge Sänger, alte Chortexte und moderne Lieder, ältere und ganz aktuelle Erfolge. Auch hier bin ich in 2 Arbeitskreisen tätig: Mitgliederbetreuung und Marketing. Hier habe ich mittlerweile auch richtige Freundschaften geschlossen. Wir haben uns zu vier Sängern jeden Diensttag getroffen, obwohl wir in der Coronazeit nicht singen konnten. Da ich auch gerne dann und wann ein Gläschen Wein genieße, bin ich in den Weinkreis, der zur Sauerlandia gehört, eingetreten.

Zu guter Letzt war ich vor Kurzem zu einer Versammlung der Sauerlandia Wagenbauer eingeladen. Hier wird der Umzugswagen der Sauerlandia für den Karnevalsumzug gebaut. Der Karneval wird in Attendorn großgeschrieben, schließlich sind wir Klein Colonia. Unser Umzug ist einer der größten in Südwestfalen. Der große Veilchendienstagszug, an dem meistens 26 Großwagen und 56 Fußgruppen teilnehmen, ist ohne Zweifel der große Höhepunkt der fünften Jahreszeit in „Kattfilleria“ (Das ist der Attendorner Namen während der Karnevalszeit, und es heißt nicht “Allaaf“ sondern “Kattfiller“!). Aber neben Gardebiwak am Samstagmorgen, Großsonntag und Rosenmontagskinderzug gibt es viele weitere jecke und närrische Veranstaltungen in und rund um Attendorn. Denn nicht nur in der Hansestadt, auch in den kleineren Orten wird bis Aschermittwoch kräftig gefeiert. Ich werde auch hier und da mal helfen, habe ich gesagt. Zumindest, wenn ich Zeit habe… .

Das Einzige, was ich heute bereue, ist, dass ich das alles nicht viel früher getan habe.

Aber wie sagt man so schön: Besser spät als nie.

So, das ist meine Geschichte der Integration im Attendorner Leben, wo ich nie wieder wegwill. Ich hoffe, es hat Euch gefallen und hat vielleicht hier und da für jemanden eine kleine Inspiration sein können.

Alain erzählt seine Geschichte aus Südwestfalen.
Alain

Der Autor Alain Verstraete wurde am 15 Dezember 1957 als Sonntagskind in Gent / Belgien geboren. Seine Kindheit ab seinem fünften Lebensjahr verbrachte er in Antwerpen. Mit 17 Jahre kam er zum Militärdienst nach Attendorn, und ist hier schließlich Sesshaft geworden. Das Vereinsleben ist ihm sehr wichtig geworden, denn er dachte: Schließlich bin ich nicht allein auf dieser Welt. Beruflich ist er auch dahin gekommen wo er immer schon wollte, um mit Verantwortung etwas bewegen zu können. Er ist heute in einer führenden Position bei einem mittelständisches Unternehmen im Sauerland. Hier ist er verantwortlich für den Einkauf und die IT. Um dahin zu kommen machte er 10 harte Jahre durch, nämlich Schule und Studium während er auch arbeiten musste. Seine Freizeit wird durch Engagement in verschiedene Attendorner Vereine bestimmt. Er bringt sich in verschiedenen Bereiche ein, und setzt sich vor allem für die Mitglieder Betreuung ein. Der Autor hat seit 20 Jahren eine Lebensgefährtin. Aus einer frühere Ehe hat er zwei Töchter. Von der Ältesten hat er mittlerweile 4 Enkelkinder. Da kann man sagen: Attendorn ist seine Heimat geworden.

Impressionen aus meinem Leben... 

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