Sadegh erzählt
Nicht ohne meine Trommel
Ich wurde in Isfahan (Iran) geboren und wuchs in einer Künstlerfamilie auf. Mein Vater spielte zwei Instrumente: Geige und Trommel. Er war Musiklehrer in einer Musikschule und nebenbei brachte mein Vater mir neben meiner Schule noch Trommelspielen bei.
Nach 12 Jahren endete meine Schulzeit und mein Militärdienst begann. Genau während des Krieges zwischen Irak und Iran. Es wurde jeden Tag schlimmer. Also entschied ich mich zur Flucht. Ich durfte niemandem von meinen Fluchtplänen erzählen, nicht einmal meinen eigenen Eltern. Man brauchte aber Geld. Ich habe als Taxifahrer ein bisschen Geld nebenbei verdient, aber das Geld reichte nicht aus. Also habe ich angefangen, Trommeln zu bauen. Da mein Bruder als Schreiner selbstständig war, konnte ich mir aus einem Baumstamm mehrere Trommeln drechseln, welche ich anschließend an Musikschulen verkaufte, um zusätzlich Geld für meine Flucht sparen zu können. Ich überlegte, was ich mitnehmen könnte, um mich auch während des Weges finanzieren zu können.
Ich habe mich entschieden, eine gedrechselte Trommel von meinem Bruder mitzunehmen, um unterwegs am Straßenrand, Leuten etwas vorspielen zu können.
Mehr konnte ich nicht mitnehmen. Lediglich noch einen kleinen silbernen Fingerhut, den meine Mutter von meiner Oma geerbt hatte, damit ich meine Kleidung zur Not flicken konnte.
Meine Flucht mit Trommel und Fingerhut
Meine Flucht begann also mit meiner Trommel und dem silbernen Fingerhut meiner Oma.

Sadegh, Olpe, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel.
Von Isfahan fuhr ich mit dem Bus aus dem Iran heraus Richtung Westen, der türkischen Grenze (Marze Bazargan). Im Bus waren Familien aus den verschiedensten Provinzen des Irans auf der Reise. Nach 48 Stunden Busfahrt sind wir endlich an der türkischen Grenze angekommen. Wir mussten alle aussteigen und zu Fuß über die Grenze laufen. Es hat 20 Stunden gedauert, bis unser Bus nach Istanbul kam. Ich war müde und erschöpft. Aber als wir alle im Bus waren, fühlte ich mich frei vom Krieg und der islamischen Republik und ich packte meine Trommel aus und fing ich an zu spielen und zu singen und alle stimmten ein. Alle klatschten und sangen dazu im Chor.
Ich war stundenlang am Trommeln. Erst als die Dämmerung begann, wurden die Leute leise. Als ich am nächsten Tag die Mitreisenden fragte, sagten sie, sie gingen nicht mehr zurück. Da realisierte ich, dass alle, ich eingeschlossen, geflohen waren. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir uns alle ohne meine Trommel niemals so nah gekommen wären. In diesem Moment hat sie uns alle miteinander verbunden.
Als wir in Istanbul ankamen, verabschiedeten wir uns voneinander.
An einem Kiosk kaufte ich etwas zu essen und fragte nach einer Unterkunft, so wurde ich von einer irakischen Familie aufgenommen. Drei Monate war ich in dieser Familie, spielte zwischendurch in der Fußgängerzone, wo sich auch viele Iraner (Midane Taghsim) aufhielten, und sang.
Es war sehr kalt und meine Finger wurden beim Spielen ganz rau und froren fast am Trommelfell fest. Bei jedem Schlag taten mir die Hände weh.
Ein Transitvisum über Alamane Shargi (Ostdeutschland, DDR)
Ich konnte zwar Geld verdienen, aber es reichte kaum für ein Mittagessen am Tag. So lebte ich weiterhin von meinem gesparten Geld und spielte zusätzlich meine Trommel auf der Straße, bis ich schließlich einen Iraner kennenlernte, der mir von einer Möglichkeit nach Deutschland einzureisen erzählte. Aber wie?
Er erzählte mir von einem Transitvisum über Alamane Sharghi (Ostdeutschland, DDR). Ich bekam die Adresse der DDR-Botschaft in Ankara und machte mich auf den Weg dorthin.
Vor der DDR-Botschaft angekommen, sah ich viele Menschen in einer Schlange stehe. Es war sehr ruhig und keiner sprach. Da ich sichergehen musste, es am Morgen auch in die Botschaft hineinzuschaffen, war ich bereits um 1 Uhr nachts dort und reihte mich in die Schlange ein. Die wartenden Menschen versuchten sich in der Kälte warm zu halten und machten ein Feuer, um bis zum Morgen durchzuhalten.
Um 11 Uhr morgens, nach einigem Hin und Her, hielt ich mein Transitvisum für 24 Stunden endlich in den Händen. Vor lauter Freude fing ich an zu singen, aber diesmal hatte ich meine Trommel nicht dabei. Doch leider hatten nicht alle Grund zur Freude, viele waren traurig, weil sie es nicht geschafft hatten, überhaupt erst in die Botschaft hineinzukommen.
Zum Glück hatte ich es geschafft und konnte so zufrieden mit dem Zug zurück nach Istanbul fahren. Als ich wieder in Istanbul ankam, packte ich schnell meine wenigen Sachen und am nächsten Mittag schon flog ich mit einer bulgarischen Fluglinie von Istanbul nach Ostberlin.
Im Flugzeug waren fast nur Flüchtlinge verschiedener Nationalitäten. Neben mir saßen zwei Passagiere aus Sri Lanka. Sie fragten mich auf Englisch, was ich in meinem Koffer hätte und ich antwortete: „Eine Trommel!“
Wir unterhielten uns während des gesamten Fluges über die unterschiedlichen Traditionen des Trommelns. Doch auf ihre Frage, warum ich meine Trommel mit auf die Flucht genommen hatte, konnte ich nicht mehr antworten, denn wir mussten uns auf die Landung vorbereiten und ich wurde zunehmend unruhig. Ich hatte Angst, die Grenzbeamten könnten mich wieder zurückschicken.
Endlich landete unser Flugzeug in Ostberlin. Die DDR-Polizisten standen am Ausgang und fragten nach unseren Pässen und kontrollierten diese. Ich legte 20 DM in den Pass und hielt still. Man fragte mich noch, ob ich nach Dänemark oder nach Westdeutschland wollte und ich antwortete mit angespannter Stimme: „Westdeutschland“.
Nach einer Stunde kam schließlich der Grenzbeamte zurück und gab mir den Ausweis. Er stempelte ihn und ich durfte weiter.
Berliner Mauer, Friedrich Straße
Ich musste innerhalb 24 Stunden Ostdeutschland verlassen. Als ich aus dem Flughafen herauskam, traf ich nochmal meine beiden Sitznachbarn aus Sri Lanka und wir nahmen gemeinsam ein Taxi. Ich zahlte mit meinem letzten Geld und nach einer halben Stunde kamen wir endlich an der Berliner Mauer, Friedrich Straße, an. Überall waren Kameras installiert und die Polizisten waren schwer bewaffnet. Die Situation dort war bizarr. Es war sehr kalt und dunkel. Auf der Ostdeutschen Seite der Mauer war mit Abstand kein Gebäude mehr zu finden, weshalb es auf dieser Seite unfassbar dunkel war und nur die Mauer, kalter Beton mit Stacheldraht, wurde mit Scheinwerfern angestrahlt. Doch auf der anderen Seite der Mauer, in Westberlin, konnte man sehen, wie alles hell leuchtete. Es kam mir vor, als wäre es Tag und Nacht zugleich. Als ich das hell erleuchtete Westberlin sah, wurde mir klar, dass alles anders werden würde, und meine Gedanken schweiften für eine kurze Zeit ab. Ich dachte an Autos, an BMWs und Mercedes. Es war mein Traum gewesen, Westdeutschland zu sehen. Das alles ging mir durch den Kopf, bis ich plötzlich von einem Polizisten wieder in die Realität zurückgeholt wurde. Wir wurden kontrolliert und meine Trommel wurde aus ihrem Koffer genommen. Der Polizist fragte mich, was das da in meinem Koffer genau sei und aus welchem Material das Instrument sei.
Ich antwortete in gebrochenem Englisch: „WOOOOOD“.
Er wollte weiterwissen, ob ich Rauschgift in meiner Trommel eingelagert hätte. Ich verneinte dies, doch der Polizist war skeptisch und meine Antwort schien ihn nicht zu überzeugen.
Sie fragten mich Stunden später, warum ich nur eine Trommel hätte, und keinen richtigen Koffer. Er fragte mich, wo meine Kleidung sei. Und ich antwortete: „Ich spiele auf der Straße und bekomme ein bisschen Geld zum Überleben. Kleidung habe ich nur die, die ich an mir trage“.
Der Grenzbeamte sagte, dass sie mit dem Holzbohrer an verschiedenen Stellen an der Trommel bohren werden, um zu sehen, ob im Holz nicht doch etwas versteckt sei.
In diesem Moment, nachdem ich mehrere Stunden verhört wurde, brach ich zusammen und fing an zu weinen.
Mit verweinten Augen, wackeligen Beinen und total erschöpft, sagte ich, dass die Trommel alles ist, was ich habe und wenn sie kaputt ginge, ich nicht mehr spielen kann. Ich hätte dann nichts mehr.
Zum Glück wendetet sich schließlich alles zum Guten und ein anderer DDR-Grenzbeamte fragte mich, während er mir die Trommel zurückgab, ob ich etwas auf der Trommel vorspielen könne. Und ich spielte, immer noch mit Tränen in den Augen, auf meiner Trommel und fing an zu singen. Ich war froh, meine Trommel wieder in den Armen zu halten.
Endlich, nach dem dreistündigen Verhör an der DDR-Grenze, schickte mich der Grenzbeamte in Richtung Tunnel unter der Mauer. Er zeigte mir, an welcher Stelle ich unter der Mauer nach Westberlin kommen würde.
Nach einem zehnminütigen Fußweg war es dann geschafft. Ich war endlich in Westberlin angekommen.
Alles war so anders, dass ich es kaum beschreiben kann. Die Straßen waren mit Beleuchtungen geschmückt, und meine Müdigkeit war auf einmal wie weg geblasen. Ich hatte mein Ziel erreicht, dachte ich. In Westberlin angekommen, ging es weiter bis zu einer Polizeistation. Er war sehr kalt und ich hatte Hunger. Völlig erschöpft klingelte ich an der Polizeistation und eine Stimme antwortet mir und fragte mich, was ich wolle. Da ich nur in gebrochenem Englisch antworten konnte, verstand er, dass ich ein Flüchtling war und ich antwortete, dass ich aus dem Iran kommen würde.
Er brachte mich in ein Zimmer mit ein paar Stühlen und bot mir etwas zu trinken an. Dort wartete ich circa vier Stunden, bis mich die Polizei in einem VW-Bus in Berlin in ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung und für Flüchtlinge brachte.
Ich wohnte dort vier Wochen, bis ich nach Nordrhein-Westfalen kam, wo wir auch heute noch leben, meine Trommel und ich…
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Hier geht’s zu Sadeghs Film – festgehalten hat er die Foto-Session mit Fotograf Dirk Vogel.

Sadegh
Hossein Sadegh Nadi, 1965 in Esfahan geboren. Er ist Iraner mit deutscher Staatsangehörigkeit und Vater von 3 Kindern. 1994 erfolgreicher Abschluss des Studiums an der Fachschule für Technik als Maschinenbautechniker in Deutschland. 1988-2005 tätig im Bereich der Energie und Schmiedetechnik in Hattingen. Bis 2017 Betreuung als Projektkoordinator von Firmen im Iran (Aufbau Orthopädie Zentrum) und in Südafrika (technische Koordinator) Seit 2019 Arbeit mit behinderten Menschen in Werkstätten.
داستان بسیار جالبی بود منتظر بقیه داستان هستیم
Auf deutsch bedeutet dies laut Google-Übersetzung: „Es war eine sehr interessante Geschichte, wir warten auf den Rest der Geschichte…“ 🙂