Oya erzählt
Unvollkommen vollkommen
Als Teil der Interkulturellen Biografiearbeit Olpe, lesen Sie den Beitrag von Oya. Ihre Geschichte ist geprägt von der Suche nach Identität in der Migration, hin- und hergerissen von der Liebe zum Land, in dem sie geboren wurde (Deutschland) und dem Land ihrer Eltern (Türkei). Eine Geschichte über Sehnsucht, Aufopferung und vor allem Dankbarkeit.
Oft erscheint einem das Leben unvollkommen. Doch im Laufe der Zeit stellt sich heraus, wie diese angebliche Unvollkommenheit sich in eine Vollkommenheit verwandelt und alles sich wie ein Puzzle zusammensetzt.
Wissen Sie wie es ist, wenn man immer zwischen 2 Stühlen sitzt? Immer hin- und hergerissen ist? Immerzu ein Gefühl der Unvollkommenheit in sich trägt? Ich denke, viele Menschen mit Migrationshintergrund wissen genau, wovon ich rede.
Ich bin die Tochter eines türkischen Textilingenieurs und einer türkischen Produktionshelferin, die 26 Jahre bei Lindt in Aachen tätig war. Meine Eltern haben sich Anfang der 70er in einem Heim für Gastarbeiter in Aachen kennengelernt. Dort fing alles an. Alle Heiratsversuche meiner Eltern scheiterten, da die Eltern meines Vaters jedes Mal ablehnten. Damals war eine Zustimmung der Eltern für eine Heirat im Ausland anscheinend noch erforderlich. Da meine Mutter eine bereits geschiedene Frau war, wollten die Eltern meines Vaters, die sehr traditionell waren, diese Heirat mit allen Mitteln verhindern. Als meine Mutter mit 40 Jahren doch noch schwanger wurde, in der Hoffnung, dass die Schwiegereltern in Spee sie nun als Braut akzeptieren, wurden all ihre Hoffnungen zunichte gemacht. Sie war im 7. Monat schwanger, als mein Vater mit dem Argument, sein Vater sei schwerkrank, in die Heimat zurückgepfiffen wurde. Kurz darauf wurde er verheiratet und kam nie wieder zurück. Ja, auch Männer können verheiratet werden und beugen sich dem Willen ihrer Eltern, nicht nur Frauen!

Oya, Drolshagen, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel.
Von dem Zeitpunkt an war meine Mutter allein, verlassen und verbittert. Das Leben hatte ihr einen heftigen Schlag verpasst, aber es ging doch irgendwie weiter. Seitdem ich denken kann, kann ich mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter einmal krankgeschrieben war. Krank war sie des Öfteren, vor allem mit zunehmendem Alter, aber zu Hause war sie aufgrund dessen nie. Sie arbeitete in Wechselschichten und war für mich Vater und Mutter zugleich. Mir sollte an nichts fehlen. Nicht an Bildung, nicht an Hobbies und nicht an Spielsachen. Sie versuchte mir nahezu alles zu ermöglichen. Vielleicht war das ein verzweifelter Versuch, vieles wieder gut zu machen. Zumindest hoffte sie das. Also habe ich 10 Jahre Ballett als Hobby gehabt und schwebte im Tutu und in Spitzenschuhen übers Parkett, spielte im 4. Schuljahr die Fee in unserer weihnachtlichen Grundschulaufführung des Nussknackers von Tschaikowsky, hatte ein Kinderzimmer voller Spielsachen und machte 1995 das Abitur. Unterstützung bekamen meine Mutter und ich von meiner Halbschwester. Anfang der 80er Jahre spitzte sich die politische Lage in der Türkei zu. Rechte und Linke bekämpften sich, wurden inhaftiert und gefoltert. Aufgrund ihrer politischen Gesinnung floh meine Schwester mit 16 Jahren aus der Türkei und kam zu uns nach Deutschland.
Bei Oma in der Türkei
Seit meinem 1. Lebensjahr flog ich mit meiner Mutter mindestens einmal im Jahr in die Türkei. Dort haben wir immer bei meiner Oma in Istanbul übernachtet und die ganze Verwandtschaft besucht. Aus Tradition und wahrscheinlich, weil es auch so erwartet wurde, waren unsere Koffer immer voll mit Geschenken aus dem Westen für die Verwandtschaft. Lindt-Schokolade, Handcreme, Shampoo & CO kamen immer gut an. Auch bei Beamten, die mit einer kleinen Aufmerksamkeit plötzlich ihre Arbeit schneller verrichteten. Die Versuche, Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen, waren erst erfolgreich, doch scheiterten ab meinem 5. Lebensjahr. Seine neu gegründete Familie war offensichtlich nicht begeistert von unseren Besuchen. Bei unserem letzten Treffen war ich fünf Jahre alt und riss vor Wut die Tischdecke vom gut gedeckten Essenstisch in der Kantine seiner Firma. Ich kann mich vage dran erinnern. Danach sah ich ihn nie wieder.
Mit zunehmendem Alter wuchs mir die Türkei mehr und mehr ans Herz. Die Freude zu Beginn des Türkei-Aufenthalts war enorm, umso schlimmer und tragischer die Abschiede. Bitterlich weinte ich am Flughafen und meine Mutter konnte das alles nicht verstehen und machte sogar Witze darüber. Ich begann die Heimat zu schätzen und zu vermissen. Die quirlige Metropole Istanbul, wo sich Orient und Okzident trafen. Maiskolben- und Simitverkäufer, die schreiend ihre Ware in überfüllten Straßen anpriesen. Simit kennt man hierzulande als Sesamring und wird in der Türkei gerne mit Tee verspeist. Ich liebte die Bazare mit frischem Obst, Gemüse und Gewürzen. Der Lärm der Straße, die bellenden Straßenhunde, streunende Katzen und mittendrin der wunderschöne, melodische Gebetsruf des Muezzins. Alles war mir so fremd und doch so vertraut. Manchmal saß ich einfach nur auf unserem Balkon und lauschte. Verzaubert sog ich diese Bilder, diese Gerüche und Geräusche in mich auf und ein wohliges Gefühl erfüllte mich. Als sei ich endlich da, wo ich hingehörte. Die tollen Erlebnisse mit Freunden, aber auch die Versuche meiner Mutter, mich vor Grapschern in vollen Bussen zu beschützen, brannten sich in mein Gedächtnis ein.
Wie eine Löwin
Beschützend stellte sie sich hinter mich, dass sich bloß keiner an mir „reiben“ konnte. Sie beschütze mich, wie eine Löwin ihr Kleines. Als ich als Kind auf einem Flohmarktbesuch mal verloren ging, suchten wir uns ca. 15 Minuten, eine gefühlte Ewigkeit. Als sie mich dann endlich wieder gefunden hatte, gab sie mir mit Tränen in den Augen erstmal eine Ohrfeige. Ihre Angst, mich zu verlieren, war groß. Nicht weniger groß war meine Angst, sie zu verlieren oder gar mit jemandem anderen teilen zu müssen.
Nie wieder hatte meine Mutter einen Partner bzw. scheiterten all Ihre Versuche eine Bekanntschaft aufrechtzuerhalten. Einer der Hauptgründe des Scheiterns war ich. Eifersüchtig vergraulte ich alle Anwärter und sorgte gewissenhaft und zuversichtlich dafür, dass kein Mann in unser Leben trat. Insgesamt war ich Männern gegenüber nicht wohl gesonnen und mochte die Frauen in meinem Leben mit nichts und niemandem teilen. Dies bekamen auch meine Schwester und ihr erster Freund zu spüren. Zerfressen vor Eifersucht ertrug ich nur schwer seine Anwesenheit und schrieb ihm irgendwann folgende Notiz: „Ibraaam (er hieß Ibrahim) ist ein dofer Man.“ Jeden Tag berichtete ich eifrig meiner Mutter, dass ER wieder da war. Sobald sie morgens um halb 6 zur Arbeit ging, kam er hineingeschlichen. Wenn meine Mutter mit meiner Schwester dann am Abend schimpfte und stritt, verspürte ich eine gewisse Genugtuung. Aber ändern tat sich nichts. Das Leben übermittelte mir oft die Nachricht: „Nicht alles läuft so, wie du es willst bzw. dir wünschst!“
Also lernte ich, oft schweren Herzens, gewisse Dinge zu akzeptieren. Nur meine Mutter, die gab ich nicht her.
Voller Demut und Dankbarkeit
Disharmonie und Streit, aber auch Humor und viel Lachen lagen bei uns immer nah beieinander. Egal wie sehr wir uns stritten und auch wenn ihre strenge, behütende Art mit zunehmendem Alter immer unerträglicher wurde, war sie immer mein sicherer Hafen. Meine Mutter vereinte Vieles in sich: Vater und Mutter, stark und verletzlich, lebensfroh und wehmütig sowie melancholisch zugleich. Manchmal auch brutal und doch voller Liebe. Eine stolze Frau war sie. Ehre spielte für sie eine große Rolle. Nicht-ehrenhaftes Verhalten kam für sie nicht in Frage. Um jeden Preis war ein ehrenhaftes Leben erstrebenswert und alles andere unakzeptabel. Ehrenhaft hieß: Nicht auf das Geld oder die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Ein autarkes Leben zu führen, unabhängig von Männern oder sonstigen Menschen. Klatsch und Tratsch vermeiden und Anderen niemals negativen Gesprächsstoff liefern. So war sie eine stolze, aber dennoch oft einsame und verbitterte Frau. Da ich mich dem Einfluss meiner Mutter nicht entziehen konnte, habe ich immer versucht einen Mittelweg zu gehen. So richtig frei war ich natürlich nie. Nicht vor allem konnte sie mich „beschützen“. Ausgehen und einen Freund haben, das waren Dinge, die ich mir schwer und langsam erarbeitet hatte, die sie aber mit der Zeit akzeptieren musste. Sie war eine überaus kluge Frau und sich letztendlich bewusst, dass sie mich nicht in einem Kokon großziehen konnte und da ihr ja auch viel daran lag, eine glückliche und selbstständige Tochter zu haben, zog sie in vielen Dingen einfach mit, auch wenn es ihr manchmal schwer fiel. Vor allem lag ihr viel daran, dass ich studierte und mein Leben unabhängig führen konnte. So habe ich mich mit knapp 20 Jahren aus der mütterlichen Obhut begeben und bin zwecks Ausbildung nach Köln gezogen. Nach der Ausbildung folgte ein Studium, dann Heirat, 2 Kinder, Arbeit, Haus, Autos etc. Im Endeffekt führe ich nun das Leben, dass sich meine Mutter immer für mich gewünscht hat, und bin den Weg gegangen, den sie mir mit viel Mühe geebnet hat.
Voller Demut und Dankbarkeit verbeuge ich mich vor Dir: Ruhe in Frieden, anne[1]!
[1] Türk.: Mutter

Oya.
Oya wurde 1979 in Aachen geboren. Bilingual aufgewachsen, interessierte sie stets das Erlernen von Sprachen. In ihrer Jugend übersetzte sie oft stundenlang mit einem Wörterbuch Songtexte. Dies war der Grundbaustein für ihr späteres Übersetzer-Studium. Ein Auslandssemester in Sydney prägte sie sehr. Dort konnte Sie Ihre Sprachkenntnisse vertiefen und verfestigen. Für sie sollte Sprache kein Hindernis darstellen, sondern ein Verbindungsglied zwischen Menschen und Kulturen darstellen. 2007 absolviert sie ihr Studium als Diplom-Übersetzerin und arbeitet heute als selbstständige ermächtigte Übersetzerin. In ihrer Freizeit ist sie gerne mit Familie und Freunden aktiv, genießt liebend gerne Thai-Gerichte und reist gerne.
Liebe Oya,
deine eigene Geschichte hast du mit so viel Leidenschaft und Liebe geschrieben.
Sie erinnert mich daran,dass wir egal aus welchen Verhätnissen wir kommen doch so viel im stande sind zu schaffen.Du hast viel geschafft und bist mutig.
Schon als kleines Mädchen wußtest du immer was du willst.Das war für mich sehr zu spüren,als du mich an meinem ersten Kindergarten Tag (3J.) an die Hand nahmst,um mit mir was zu spielen.Mit Stolz kann ich sagen,ich habe einTeil deiner Geschichte miterleben dürfen.
-Wir sehen uns noch heute und erzählen uns von alten Zeiten. 🙂
Liebe Oya,
bin voll gerührt!
Das hast du großartig erzählt!