Kazim erzählt
Als ich geboren wurde…
Aus der Reihe Geschichten aus Südwestfalen lesen Sie den Beitrag von Kazim. Im Rahmen des Projekts Erzähle Deine Geschichte, welches von der Autorin Barbara Peveling sowie dem Fotografen Dirk Vogel in Zusammenarbeit mit dem Verein Willkommen in Olpe e.V. ins Leben gerufen wurde, entstand diese Geschichte, welche den Lebensweg von Kazim von der Türkei nach Deutschland zeichnet.
Die Frage, wann ich geboren wurde, hat mich eigentlich immer beschäftigt. Die Antwort war sehr oft klar, es war im Spätsommer irgendwann, als die Haselnüsse von den Bäumen fielen. Das erfuhr ich in einem Gespräch mit der Nachbarin, die 93 Jahre alt ist. Sie hat ein fabelhaftes Gedächtnis. Sie erzählte mir die Ereignisse so genau und lückenlos, dass ich meine Mutter noch einmal fragen musste, ob es auch so war.
Sie erzählte mir diesmal die ganze Geschichte. Mein Opa, der Vater meines Vaters, war ein Witwer. Nach dem Tod meiner Oma hatte er eine andere Frau gefunden und sie lebten zusammen, allerdings mochte die Frau meine Mutter nicht, genau wie meine Mutter sie nicht mochte.
Kurz vor der Geburt ging sie in den Wald. Mein Vater war verreist, um Geld zu verdienen. Mutter sagte: Mein Kind werde ich nicht in dem Haus zur Welt bringen, wo diese Frau lebt. Also ging sie in der ersten Nacht zur Nachbarin, die in der Nähe eine Hütte hatte und am nächsten Morgen ging sie in ihre eigene Hütte. Um die Mittagzeit bekam sie Wehen. Sie schickte meinen älteren Bruder zur Oma, die solle zur Hütte kommen. (Oma, also die Mutter von meiner Mutter.) Nach einer Weile kam sie zu Hütte.
Die Nachbarin sagte: Wo ist die Hebamme??? Mein Bruder hatte vergessen zu sagen, dass meine Mutter Wehen hatte. Oma ritt wieder mit dem Esel zurück ins Dorf, um die Hebamme zu holen. Die Hebamme wohnte mitten im Dorf und war damit beschäftigt Weintrauben zu kochen, als meine Oma sie darum bat, mit zu kommen, rief sie laut nach ihrem Mann, der etwas schwerhörig war und erzählte wo sie hin ging, so dass es alle Dorfbewohner hören konnten. Gegen Abend kamen sie zur Hütte. Meine Mutter hatte die ganze Zeit lang Wehen, sie musste sich allein sehr quälen, irgendwann bin ich geboren.

Kazim, Attendorn, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel.
Nur wenige Minuten nach meiner Geburt gingen Blitz und Hagel so kräftig los, dass es wie eine Flut aussah.
Die Hebamme sagte zu meiner Mutter: Deine Nachbarin hat vor zehn Tagen ein Kind bekommen, da musste ich kaum helfen, aber bei deiner Geburt hat der liebe Gott uns irgendwas sagen wollen, daher sollte mein Name auch einen Dank an Gott ausdrücken.
Mutter sagte, dass es schwer und schmerzhaft war, aber sie sei froh gewesen, dass ich nicht im Haus beim Opa geboren wurde. Daher weiß ich jetzt fast genau, dass ich zwischen dem 25.09.62.und 5.10.62 geboren bin. Mein Geburtstag ist nach wie vor der 28.04.63. Warum das so spät eingetragen wurde, kann mir keiner erklären. Irgendwie bin ich jung, aber in Wirklichkeit werde ich deshalb vier Jahre später in die Rente gehen. Wem soll ich dankbar sein???
Überraschung…
Das war in den Sommerferien. Ich war schon seit einem Monat wieder im Dorf aus der Schule zurück. Und jeden Tag gab es die übliche Feldarbeit von morgens bis abends. Kein richtiges Frühstück, kein Mittagessen oder Abendessen, es wurde zwischendurch gegessen, was zufällig da war oder was von Vortag übriggeblieben ist. Aber was in diesen Tagen besonders war, war dass ich schon angefangen hatte, eigene Pläne zu machen. Ich wollte endlich mal etwas Geld in der Geldbörse haben, moderne Kleidung anziehen, mit Freunden ausgehen und Spaß haben. Ich hätte niemals etwas Geld dafür gehabt, auch Mama hätte niemals von sich aus etwas gegeben. An einem Nachmittag kamen wir von der Arbeit nach Hause. Ich machte mich schnell fertig für die Hochzeit, zu der ich eingeladen war.
Ich fragte Mama, ob sie mir etwas Geld geben könnte. Sie sagte mit einem traurigen Gesicht, sie hätte nichts…warum fragst du?
…Dann ging ich mit schnellen Schritten aus dem Haus Richtung Dorfmitte. Ich wollte eigentlich zu der Hochzeit, aber jetzt stand ich vor dem kleinen Auto, das die Leute in die Stadt fuhr. Ich fragte den Fahrer, ob er mich in die Stadt bringen könnte, versprach, dass ich ihm das Geld später geben würde.
Okay, steig ein. Als wir unterwegs waren, sagte ich mir immer wieder: Jetzt kannst du dich beweisen. Du kannst deiner Mama beweisen, dass du erwachsen bist, eigene Gefühle hast, eigene Gedanken hast und ähnliches. Und alle überraschen….
Nach zweieinhalb Stunden kam ich an. Ich ging sofort zum Bauherrn, er war der Freund meines Onkels.
Ich sagte: Ich brauche eine Arbeit, ich muss Geld verdienen. Er sagte, warte etwas, ich kann dir was anbieten, aber wenn du das nicht machst, habe nichts anderes für dich. Dann fuhren wir zu Baustelle. Er gab mir einen Hammer und einen Behälter und zeigte mir einen Berg Bretter vor der Baustelle. Ich musste Nägel ausziehen und die Bretter sortieren und konnte sofort anfangen.
Ich fing also zu arbeiten an, obwohl ich im Dorf bei der Hochzeit sein sollte. Insgesamt blieb ich 5 Wochen. Am Ende habe ich einen ganzen Berg von Brettern sauber gemacht und sortiert. Der Bauherr gab mir tatsächlich mehr Geld als vereinbart, denn er war zufrieden und ich ebenfalls. Dann kaufte ich mir neue Sachen und fuhr zurück ins Dorf. Ich lief die Straßen mit breiter Brust entlang und als ich nach Hause kam, rief ich laut nach Mama: Bist du da?
Sie antwortete: Ja! In der Küche. Ich lief hoch und legte die Tasche mit den neuen Sachen in die Ecke, holte das Geld und rief: Hier, ich habe für dich eine Überraschung, nimm dieses Geld an. Wenn ich wieder mal von dir was haben will, kannst du es mir geben und du kannst für dich was Schönes kaufen, weil du sonst nie Geld hast….
Sie schüttelte den Kopf und sah mich an und sagte: Die Überraschung ist, dass dein Vater zum Urlaub hergekommen ist, um dich mit nach Deutschland zu nehmen.
Eine Stille trat ein, die sich für mich anfühlte, als würde sie niemals enden….
Die ganze Lust, der Stolz, die Freude und schwere Arbeit in den letzten Tagen, waren auf einmal bedeutungslos, ich sagte leise, sogar etwas weinend: Was ist mit der Schule? Ich habe in einem Monat meinen Abschluss….
Sie antwortete: Dein Vater hat gesagt, ich opfere meinen Sohn keiner blinden Kugel, deswegen nehme ich ihn mit……
Einreise…
Am 29.11.79, einem kalten Samstagmorgen, sind wir in Deutschland angekommen. Mit Neugier, und Hoffnungslosigkeit und oben darauf vielen Fragen, die niemand beantworten konnte oder vielmehr wollte, sind wir Samstagnacht in der Wohnung in Attendorn angekommen.
Es verging eine Woche und ich hatte kaum jemanden, mit dem ich Türkisch oder Englisch sprechen konnte. Ich hatte lediglich die IGM Zeitung der Firma zum Durchblättern und habe natürlich nichts verstanden.
Dann fiel mir ein, was mein Geschichtslehrer vor einigen Jahren gesagt hatte.
Er sagte, wenn du das Gelesene nicht verstehst, schreibe es auf ein Blatt, versuche es Wort für Wort zu lernen. Dann packte mich ein innerer Wille; ich wollte nur noch schreiben und aus dem Wörterbuch einen Satz finden, damit wollte ich eigentlich meine Wut erdrücken, aber es hat funktioniert. Ich habe ganz schnell angefangen Deutsch zu lernen. Einen Haken gab es, ich konnte es nicht üben, denn die Arbeitskollegen von meinem Vater konnten es ja kaum sprechen, geschweige denn mir beibringen. Meine Wut kochte jeden Tag mehr und mehr auf, aber sie kam nicht zum Überlauf. Ich kaufte einige Male Brot und Brötchen, natürlich, ohne mit jemandem sprechen zu können. Ich wollte und musste das, was ich in den letzten Tagen aufgeschrieben hatte, mit jemandem praktizieren, also ging ich nach zwei Wochen wieder in den Laden, stellte mich vor die Brottheke und sagte langsam, aber deutlich: Ich möchte bitte ein halbes Kasseler-Brot.
Die Verkäuferin sah mich mit großen Augen: Was bitte?
Ich wiederholte es…dann rief sie die Kollegin ebenso laut: Elfriede komm schnell hierher!
Wir drei stehen also an der Brottheke. Sie sagte nochmal zu mir: Jetzt sag nochmal, was willst du denn? Ich war irgendwie nervös, aber sicher, dass ich es richtig gesagt hatte: Ich möchte bitte ein halbes Kasseler-Brot. Dann sagte Elfriede: Das ist der junge Mann, der uns seit zwei Wochen mit englischen Worten erzählen wollte, was er haben will und jetzt kommt er herein und spricht Deutsch! In zwei Wochen hat er so viel gelernt, alle Achtung. Seine Landsleute sind schon seit Jahren hier, keiner hat es so schnell geschafft wie er, toll.
Ich ging zur Kasse, wollte zahlen und bekam eine extra Tüte noch dazu, ich sagte: Ich wollte nur Brot. Sie sagte: Das ist ein kleines Geschenk von uns, nimm es bitte an und mach genau so weiter. Heute können wir dir in unserem Land Willkommen sagen. Als ich draußen war, wehte ein Wind in mir, der jeden negativen Gedanken von mir nahm. Ich atmete tief ein und aus und sagte zu mir selbst: Jetzt bist du wirklich in Deutschland angekommen.
Behörden-Kram
Drei Monate später bekam ich einen Brief von dem Ausländeramt. In dem Brief stand, dass ich aus der Wohnung ausziehen musste, da diese nur für eine Person bewohnbar wäre. Mir passte das, denn es war kein sauberes Haus und es gab niemanden, mit dem ich mich unterhalten oder spielen konnte. Die haben sich alle wirklich nur kaputt gearbeitet.
Dann kam der zweite Brief vom Amt, darin stand geschrieben, dass ich zur Schule gehen musste. Die einzige Möglichkeit war, in die Berufsschule zu gehen, denn das klappte ohne Probleme. Nach drei Wochen Schule kam mein Lehrer zur mir und sagte, ich gehörte nicht hierher, ich müsste die höhere Schule besuchen, oder eine Lehre machen. Ich hätte in der Türkei ja fast mein Studium beendet. Vergleichsweise wäre ich hier ein gelernter Metallschlosser gewesen. Also zuerst kümmerte ich mich um eine Firma, in der ich eine Lehre machen konnte und mit Hilfe von dem Lehrer sagte die Firma Hösch zu, dann kam die Sache mit den Zeugnissen, die ich alle einreichte und dann wartete ich. Schließlich kam ein Brief von der IHK, in dem stand, dass es nicht möglich wäre, weil ich aus einem Land kam, dass nicht zu der EU gehörte. Das war ein erneuter Schock. Ich ging zu meinem Lehrer, zeigte ihm den Brief und er war genauso schockiert wie ich. Er sagte, das sei doch Schwachsinn…
Am nächsten Morgen sagte er zu mir: Wenn Du einen Schnellkurs machen kannst, dann kannst du vielleicht Dolmetscher werden.
Ich antwortete: Okay. Wir reichten dann alle Zeugnisse an das Schulamt und warteten. Nach einer Weile kam der Brief. In diesem stand, dass ein Schnellkurs an der Uni Siegen nicht möglich wäre, da meine Zeugnisse von dem deutschen Schulamt nicht anerkannt werden könnten. Grund dafür war wieder, dass die Türkei nicht zur EU gehörte. Mein Lehrer war viel mehr enttäuscht als ich. Er war sogar genervt und sagte, dass würde er nicht zulassen.
Er kämpfte für mich mit den Behörden und schaffte es schließlich, mir eine Stelle bei Hösch zu organisieren.
Eines hatten wir aber vergessen: Wie würde mein Vater reagieren? Als ich es ihm sagte, schrie er ziemlich wütend: Das geht doch gar nicht! Wie soll ich Dich drei Jahre lang studieren lassen, ich habe noch fünf andere Kinder, die ich ernähren muss!
Er war eigentlich das schlimmste „Amt“ von allen! Als ich das dem Lehrer erzählte, kam er abends zu uns ins Haus und versuchte meinen Vater zu überreden, ihm zu erklären, dass es für mich das Beste wäre. Er sagte, er habe für niemanden so viel Behördenkram erledigt, wie für mich, wir hatten es geschafft und jetzt spielte mein Vater mit uns, machte alles kaputt?
Nein, rief er, dass lasse ich nicht zu! Außerdem ist Ihr Sohn nun 18 Jahre alt, ich informiere die Behörden, die werden Sie dazu zwingen!
Dies war für mich eine Erlösung, die ich allein so nie geschafft hätte!
Kindheitserinnerung aus der Türkei: Tarhana
Es ist ein ganz normaler Tag.
Meine Mutter will Tarhana kochen. Frühmorgens fängt sie mit den Vorbereitungen an. Das Mehl ist fertig und das Wasser im großen Topf wird langsam heiß. Wenn es anfängt zu kochen, wird das Mehl langsam dazu gegeben und mit einem großen Holzlöffel gerührt, das dauert so lange, bis genügend Mehl in den großen Topf drin ist. Nach einer Weile wird das Gemisch schwer und lässt sich kaum noch rühren. Die Klümpchen werden langsam zu einem großen Teig gerührt. Mutter weiß, wann es fertig ist. Wir holen es vom Feuer runter und nehmen den Teig mit der großen Metallschale raus und werfen ihn auf ein sauberes Tuch. Dann wird diese Teigmasse in viele Stücke geteilt und wir lassen sie kalt werden.
Nach ca. einer Stunde wird alles in eine Wanne gegeben, dazu kommt Jogurt und Hefe. Dieses Mal wird alles mit der Hand zu einem weichen Teig gerührt, dann kommt die Masse in den Stoffbeutel und wird zugebunden. Nach einem Tag holt man die Masse raus und legt diesen Teig mit der Hand verteilt wie Haselnüsse auf eine große saubere Decke. Hier fängt eigentlich meine Geschichte an. Denn Mutter geht zum Nachbarn, um um Hilfe zu bitten, dabei läuft sie bei Frau Halime kommt vorbei und fragt: Kannst du mir helfen, das Tarhana zu stückeln?? Frau Halime antwortet, es gehe ihr nicht so gut, sie habe schon ihren Schwiegersohn angerufen, er soll kommen und sie zum Arzt fahren…Mutter geht weiter, fragt andere Nachbarn. Als sie zurückkommt, sieht sie Halime am Fenster stehen. Halime fragt: Hast du keinen gefunden, der dir helfen könnte??
Mutter sagt, es wird jemand kommen, aber nicht so viele, wie ich gehofft habe. Am späten Nachmittag kommen zwei andere Frauen zur Hilfe. Halime kommt auch noch hinzu, aber sie sieht benommen aus und setzt sich in eine Ecke, fängt an zu Stückeln, aber nach zehn Minuten sagt Halime: Mir geht’s nicht gut, ich lege mich mal kurz hin. Mutter sagt: Halime, gehe bitte wenigstens in den Schatten, da ist es besser als hier. Halime sagt ganz leise, lasst mich hier mal kurz liegen. Mutter ist besorgt, geht zu Halime und fragt, wie es ihr geht: kein Ton! Mutter schüttelt sie langsam, es kommt keine Reaktion, jetzt kommen die anderen Frauen hinzu, heben Halime auf und bringen sie in den Schatten, waschen das Gesicht mit Wasser, rufen den Krankenwagen. Als der Krankenwagen kommt, nehmen sie sie in den Wagen rein und versuchen, sie zu behandeln. Draußen sind alle besorgt und hoffen, dass nichts Schlimmes passiert. Irgendwann kommt die Schwester raus und sagt: Es war sehr knapp, sie hat es in letzter Sekunde geschafft zurückzukommen, es war ein Herzinfarkt. Aber das muss schon der Zweite gewesen sein…sie hätte Glück, dass sie bei euch war! Alle waren froh, dass sie es geschafft hat. Nach einer Woche kommt sie vom Krankenhaus zurück. Mutter eilt zu Halime, um sie zu begrüßen und Halime sagt zu Mutter: Um deine Tarhana zu Stückeln, muss man von dem Totenbett auferstehen.

Kazim.
Kazim Ez wurde 1963 in Acipayam, Denizli, Türkei geboren. Er ist Schweißer, verheiratet, hat zwei Kinder und 3 Enkel, seit 1984 ist er Mitglied im Attendorner Moschee Verein e.V und seit 2019 zweiter Vorsitzender, er ist vor allem leidenschaftlicher Hobbygärtner.
Herzlichen Dank für die Zusammenstellung und Arbeit der dahinter steckt. Ich bin froh darüber dass ich euch alle kennengelernt habe und wünsche dass wir es schaffen somit näher zu kommen und schaffen in Frieden leben und leben lassen zu können…👌👌👏👏👏👏
Hallo Kazim, danke für das tolle Feedback! Wir sind so froh, dass Du Deine Geschichte erzählt hast und bei dem Projekt dabei bist!…