Nicola erzählt

Mein Sommermärchen

Attendorn in Südwestfalen ist Heimat für viele Einwanderer aus anderen europäischen Ländern. Deren Leben ist geprägt von den Kulturen der alten und der neuen Heimat. Wie zum Beispiel Nicola. Ursprünglich aus Italien, kam er mit seiner Familie als kleines Kind nach Attendorn. In einem Schreibworkshop erzählte er seine Geschichte über Zuwanderung und Integration. Wie er sein Leben sieht im Spannungsfeld der Beziehungen zwischen Deutschen, Italienern und seinen Freunden, die aus anderen Ländern kamen.

 

04.07.2006, Dortmund, Signal Iduna Park…

Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft 2006, Deutschland-Italien, es läuft die 119. Minute, es steht 0:0! Italien führt eine Ecke aus. Der Ball kommt zu Andrea Pirlo. Er schaut, überlegt und mit einem genialen Trick spielt er den Ball per Hackentrick zu Fabio Grosso. Er schießt…Tor, Tor, Tor

06.11.1979, ich bin im Zug auf dem Weg nach Deutschland. Meine Eltern haben die Entscheidung getroffen, ihr Glück fernab von Italien zu suchen. Das Leben in einem Vorort von Cosenza, Italien, bietet leider keine gute Voraussetzung, um eine Familie zukünftig ernähren zu können. Mein älterer Bruder ist 1,5 Jahre und ich bin gerade mal einen Monat alt, als wir nach Deutschland auswanderten. Einige Verwandten von uns waren schon in Deutschland und hatten von den Möglichkeiten, die Deutschland bietet, erzählt. Mein Vater tritt eine Stelle als Arbeiter bei der Firma Muhr und Bender in Attendorn an. Meine Mutter bei der Firma Gebrüder Kemmerich. 1982 kam meine Schwester in Attendorn auf die Welt.

Mein Vater hat zu Lebzeiten versucht, sich ein zweites Standbein aufzubauen, leider ohne Erfolg. Seine Festanstellung bei Muhr und Bender hat er nie aufgegeben. Die Versorgung der Familie war das Wichtigste für ihn. Meine Mutter hat meinen Vater in jeder seiner Entscheidungen unterstützt, auch wenn es nicht immer einfach war. Da sie sich auch hauptsächlich um uns Kinder kümmern musste, musste sie mehrmals ihre Arbeitgeber wechseln.

Meine Geschwister und ich haben uns jahrelang ein Kinderzimmer geteilt. Unsere Kindheit und Jugend waren ganz gewöhnlich, mit den alltäglichen Problemen und Freuden eines Kindes. Wir haben, wie die meisten ausländischen Kinder in Attendorn, nach der Grundschule die Hauptschule besucht. Neben der schulischen Ausbildung konnten mein Bruder und ich die Vorteile eines Fußballvereines genießen. Ich habe in den kompletten Jugendabteilungen des SV 04 Attendorn gespielt. Im Seniorenbereich habe ich mehrere Vereine gewechselt. Respekt, Kameradschaft, Teamspirit und Freundschaft wurden großgeschrieben. Das übertrug sich auch auf unsere weitere Entwicklung. Unser Freundeskreis war von Deutschen, über Türken bis hin zu Spaniern, bunt vertreten. Fußball prägte unsere Freizeit. Der Traum, mal in der italienischen Nationalmannschaft zu spielen, hat uns immer begleitet.

Die fußballerische Rivalität zwischen uns Italienern und unseren deutschen Freunden war von Enthusiasmus, Patriotismus und Arroganz geprägt, aber nie von Gewalt.

 

Nicola, Attendorn, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel.

 

Dieses Gefühl der „Dolce Vita“

In den Sommerferien haben wir immer Urlaub in unserer Heimat Italien verbracht. Dieses Gefühl der „Dolce Vita“ trugen wir immer in uns und versuchten es auch in Deutschland zu leben. Hat nicht immer funktioniert. In Italien waren wir auch immer für unsere Verwandten „die Deutschen“.

Auf der Hauptschule habe ich den 10B Abschluss mit Qualifikation für das Gymnasium erreicht. Direkt danach fing ich 1996 meine Berufsausbildung zum Energieelektroniker bei der Firma Muhr und Bender an, die ich im Januar 2000 bestanden haben.

Während der Ausbildung habe ich meinen damaligen besten Freund kennengelernt. Durch ihn lernte ich die türkische Kultur besser schätzen. Das hat mir auch während meiner Spielzeit bei dem Heimatverein Türk Attendorn geholfen. Dank ihm habe ich mich nach der Ausbildung an der Abendschule eingeschrieben und machte berufsbegleitend in drei Jahre mein Abitur. Gleichzeitig lernte ich meine jetzige Frau kennen und lieben.

Während der Abi-Zeit hatte ich viele Pläne. Eines meiner Ziele war es, nach Italien zurückzugehen. Deswegen habe ich mich im Jahr 2003 an der Universität Siegen im Fach LCMS (Literary, Cultural and Media Studies) eingeschrieben.  Die Studentenzeit war eine interessante und aufregende Zeit.

Eine Nachricht, die mein Leben verändert hat

Da ich schon zweimal in Rom war, war Rom auch mein Ziel. Familienplanung war kein Thema für mich. 2005 wurde mein Leben komplett durcheinander gewürfelt. Meine damalige Freundin, jetzige Frau, wurde von mir schwanger. Eine Nachricht, die mein Leben verändert hat. Ich war im Studium, sie im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Pflegefachkraft. Als Auto besaßen wir nur einen kleinen Fiat 500 Sporting, nicht gerade ein Familienauto. Wir wohnten in einer ca. 35qm großen Kellerwohnung. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Das Baby würde im Mai 2006 zu Welt kommen. Wir waren überfordert. Wir wussten nicht, was mit uns geschieht. Eines war sicher, wir wollten das Kind behalten und für mich hatte jetzt Priorität, für mein Kind zu sorgen. Gegen jeden Rat immun, doch soziale Unterstützung zu beantragen, brach ich mein Studium ab und fing im Februar 2006 als Produktionshelfer bei der Firma Mauro Automotive an. Noch vor der Geburt sind wir in einer größeren Wohnung umgezogen, haben im März geheiratet und meine Frau hat hochschwanger sogar ihre Prüfung bestanden. Jetzt konnten wir uns ganz auf die Geburt konzentrieren. Wir konnten schon damals und können immer noch, auf die große Unterstützung von unserer Familie zählen.

Am 21.05.2006 kam unsere Tochter auf die Welt. Ein unbeschreibliches Gefühl.

Ich fühlte mich als Mensch komplett. Vater zu sein ist ein tolles, aber auch beängstigendes Gefühl, denn ab jetzt bist du für ein Menschen komplett verantwortlich.  Dieses Gefühl begleitete mich auch während der Fußball WM 2006 Deutschland. Auch wenn meine Tochter gerade mal 2 Monate alt war, habe ich sie spüren lassen, was es bedeutete, ein Italiener zu sein und seine Mannschaft anzufeuern. Nach jedem Sieg sind wir mit den vielen italienischen Fans Autokorso gefahren. Meine Tochter lag in ihrer Babyschale und lächelte mich an, als würde sie sich mit uns freuen. Als es Zeit war, habe ich sie und meine Frau nach Hause gebracht und bin dann wieder in die Stadt gefahren. Vor der alten Post haben wir, die italienischen Fans, uns getroffen und haben weiter gefeiert.

Mein Sommermärchen war perfekt

04.07.2006

…Italien besiegt Deutschland mit 2:0, ein geiles, schönes Gefühl. Sogar die deutschen Fans haben mit uns nach dem Spiel gefeiert, denn es war das beste Spiel der WM und sie gaben zu, dass wir am Ende den Sieg etwas mehr verdient hatten. Fünf Tage später hat Italien gegen Frankreich das Finale gewonnen und „Mein Italien“ wurde in meiner deutschen Heimat Weltmeister. 2006 war das Jahr der Wendungen in meinem Leben: Hochzeit, Geburt, berufliche Neuorientierung und Weltmeister, mein Sommermärchen war perfekt!

Durch die Verantwortung für meine Familien habe ich mich stets beruflich weitergebildet, bis hin zur Besetzung von Führungspositionen.

2009 haben wir eine Wohnung gekauft, die aber mit dem weiteren Familienzuwachs zu klein wurde. Heute lebe ich mit meiner Frau, unseren 4 Kindern und unserem Hund in einem Altbau mit Grundstück, wo sich meine Familie austoben kann. Wir sind bekannt dafür, dass wir die meiste Zeit volles Haus haben, denn wir mögen es, unsere Lieben und Freunde bei uns zu haben, gemeinsame Zeit verbringen, wie z.B. Grillen und Pizza backen und essen. Zu meinen anderen Freizeitaktivitäten gehört Tennisspielen und das Treffen mit meiner Clique.

Soweit es die Zeit zuließ, habe ich mich ehrenamtlich im Centro Don Bosco engagiert und bin auf kommunaler Ebene Mitglied einer politischen Partei.

In Attendorn und Umgebung leben über 500 Italiener. Unser Treffpunkt ist seit über 50 Jahren das Centro Don Bosco, unser „Little Italy“ in Attendorn. Einmal rein und schon kann man Italien fühlen, leben. Kickern, Boccia, italienische Kartenspiele spielen oder einfach nur über dies und jenes quatschen und dabei ein kühles Glas Bier trinken. Ja, das ist Italien. Unsere Gespräche sind so emotional aufgeladen, dass man meinen könnte, dass wir nur am Streiten sind. Dem ist nicht so, wir sind halt impulsiv und temperamentvoll.

Durch das gemeinsame Leben mit meiner Frau und unseren Kindern, kann ich sagen, dass ich mich mit der deutschen Kultur versöhnt habe und mich seit dem Sommermärchen 2006, nicht nur als Gast bei Freunden fühle, sondern hier bin ich zu Hause.

Im Sommer 2021 sind wir Fußballeuropameister 2020 geworden und das Sommermärchen hat sich zum Teil sogar wiederholt.

Im Schreibworkshop erzählte Nicola seine Geschichte
Nicola

Nicola R. Naccarato wurde am 06.10.1979 in Cosenza, Italien geboren. Sein ganzes Leben, abgesehen von kurzen Abschnitten, lebt er schon in Attendorn. Sein Leben war in eine Richtung orientiert: Irgendwann für immer nach Italien zurückzugehen. Seit Dezember 1999 ist er mit seiner deutschen Frau zusammen, die er 2006 geheiratet hat. 2006 ist auch das Jahr, in dem sein Leben die entscheidende Wendung bekommen hat. Zusammen haben sie heute 4 Kinder.

Impressionen aus meinem Leben... 

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