Sigi erzählt

Der doppelte Ausländer

Meine Geschichte, warum ich mich heute in Salamanca genauso als Ausländer fühle, wie in Deutschland

Alles begann in Salamanca, Spanien, an einem sehr fernen Tag – so weit weg, dass ich ihn vergessen will; und doch möchte ich, falls es jemanden gibt, der daran interessiert ist, davon zu lesen, (was ich nicht glaube), nun davon erzählen.

Am 17. Juli 1962, so gegen 22.30 abends, nahmen wir den Zug nach Allemannia. Ich war 20 Jahre alt.

1955 in den Schulferien hatte ich ein Job als Boote in einem Wohnheim für Studenten. 3 Tage in der Woche war ich Mädchen für alles! Dafür nahm ich kleine Bestellungen aller Art auf. Bücher, Schreibkram, etc. Außerdem war dies die Möglichkeit für mich, etwas Geld zu verdienen, um den Haushalt meiner Mutter zu unterstützen.

Fußball war damals schon meine Leidenschaft. Ich meine, ich war gut, aber für Real Madrid reichte es leider nicht.

Damals lernte ich einen Anhänger von Franco kennen, er war Hausmeister. Er war in den Genuss eines Hauses in Stadtviertel La Vega in Salamanca gekommen.  Er wollte aber dieses Haus nicht mehr, sondern er wollte ein besseres. Ich fragte ihn, ob er das Haus verkaufen wollte. Die Antwort war: Ja. Für 20.000 pesetas. Das war für meine Familie viel Geld.

1958 fand ich Arbeit in einer Buchhandlug Cervantes, der Lohn war 300 Pesetas im Monat, da ich sehr tüchtig war und mich bemühte, alles zu lernen, wurde mein Gehalt nach 4 Monaten auf 500 Pesetas aufgestockt. Das gefiel mir so sehr, dass ich abends freiwillig länger arbeitete, um zu lernen, wo die Bücher zu finden waren. Die Autoren waren Unamuno, Philosophen; ich las die Dichter, Gabriel y Galan (ein Dichter aus Salamanca), Garcia Lorca, Azorin, usw. usw.

 

Sigi, Siegen, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel.

 

Nach 4 oder 5 Monaten war ich in der Lage, sofort die gefragten Bücher zu finden, wenn die Kunden danach verlangten. Ich war sehr zufrieden.

Da es bei mir sehr gut lief, fragte ich meinen Chef, ob er mir 20.000 Pesetas leihen könnte. Ich erzählte ihm, wofür ich das Geld brauche. Ein Haus kaufen!!!! Für meine Mutter. Zu meiner Überraschung sagte er: Ja!!!!!!

Ich nahm Kontakt mit dem Hausmeister auf und kaufte das Haus. Das Problem war, dass er das Haus eigentlich nicht verkaufen durfte, aber als Kämpfer im Krieg bei Franco durfte er es dann schließlich doch. Ich habe ihn kontaktiert und diesmal sagte er: Ja, ich verkaufe Dir das Haus.

Wir haben uns einige Tage später getroffen, er hatte alle Unterlagen dabei, ich das Geld. Er unterschrieb mir ein Papier, dass er das Geld erhalten hätte.

Alemania, Alemania y Alemania

Das war 1959. Da wurde ein neuer Mitarbeiter eingestellt: Alonso wollte nicht mehr Priester werden. Mein Chef übertrug mir die Aufgabe, ihn einzuarbeiten. Irgendwann stellte Alonso mir die Frage bezüglich der Bezahlung: 500 Pesetas… Er sagte: Ich bekomme 1000 Pesetas. Was?  Mir tat es weh, das zu hören. Von da an war alles anders, ich hatte das Vertrauen in meinen Chef verloren.

1961 fing Juan an, bei uns zu arbeiten. Er erzählte von Alemania, Alemania y Alemania. Arbeit, viel Arbeit und einer guten Bezahlung, Überstunden, soviel man wollte und könnte und 25 Tage bezahlten Urlaub!

Juan war schon in Deutschland gewesen und war zurück nach Salamanca gekommen. Juan Antonio, Rodero und ich hörten gern zu, wenn Juan uns von Deutschland erzählte. Wir trafen uns jedem Tag in der Mittagspause, 13.30 bis 17.00. Es war so heiß im Sommer, dass es sinnvoll war, so lange Pause zu machen. Und danach bis 21 geöffnet zu haben. Juan erzählte uns von seinem Aufenthalt in Deutschland. Je mehr uns Juan erzählte, desto besser und leichter war es, sich Gedanken darüberzumachen, vielleicht auszuwandern.

Überhaupt, in Salamanca könnte man vielleicht Arbeit finden, aber die Bezahlung war so schlecht, man konnte damit nicht mal die Familie ernähren!

Und die Idee war geboren:  Europa!!!!

Da ergab sich eine Möglichkeit, einfach für das Ausland Europa einen Antrag zu stellen!!!! Wunschland: England!! Aber der Beamte, bei dem man sich anmelden musste, sagte klipp und klar:

Nicht England, also Alemania Alemania………..

Wir unterschrieben also die Formulare.

Der Beamte erklärte uns, was wir brauchten:

  1. Wenn einer nicht volljährig war: die Genehmigung des Vaters
  2. Einen Ausweis

Für mich persönlich war es ein Schock, weil ich die Unterschrift meines Vaters nicht bekommen konnte, meine Mutter wäre dagegen gewesen, also fälschte ich die Unterschrift meines Vaters.

Wird schon klappen!!!

Natürlich durfte kein Mensch bei uns Zuhause davon erfahren, besonderes meine Mutter nicht.

Nach sechs oder sieben Wochen rief Juan uns an, um uns mitzuteilen, dass wir vier uns erneut bei dem Beamten präsentieren müssten.

Nun Leute, sagte er, ich möchte einige Fragen zu eurer Reise klären: Abfahrt von Salamanca am 17. Juli um 22:30 Uhr. Wir legten unsere Pässe vor, er befand sie für gültig und begann, uns die wichtigsten Punkte zu erklären:  ES IST EINE STAHLFABRIK !!!!!

Wir konnten uns gar nicht vorstellen was in einer „fabrica de acero“ von den Mitarbeitern verlangt wurde. Wird schon klappen!!!!! Mit diesen Worten trösteten wir uns gegenseitig.

Meiner Schwester Adoracion erzählte ich erst zwei Tagen vor der Abreise von unserem Vorhaben. Also ohne die Hilfe meiner Schwester hätte ich nicht nach Deutschland aufbrechen können, sie versprach, es meiner Mutter beizubringen. Meine arme Mutter hat beide Tage nur geweint. Meine Mutter war 60 Jahre alt und hatte vieles durchgemacht aufgrund ihrer eigenen Familie.

Ich kaufte einen kleinen Koffer, der groß genug war, für eine Hose, vier Paar Socken, einen Pullover und Schuhe. Mehr gab es nicht. Der Abschied von meiner Mutter war schlimm, ich konnte nicht sehen oder hören, wie meine Mutter litt. Aber habe es am Ende doch geschafft, meine liebe Mutter zu verlassen und bin aufgebrochen.

17 Juli 1962 war mein letzter Tag in Salamanca!!!!!

Abends waren ca. 200 Leute am Bahnhof. Ca. 80 bis 90 würden mit den Zug wegfahren, der Rest waren Familienmitglieder der Leute, die an dem Abend ihr geliebtes Salamanca Richtung Europa verließen. Pünktlich um 22.30 heulte die „Lokomotive“ zur Abfahrt, um uns allen klar zu machen, es wird ernst, auf nach Alemania!

Jetzt war es ernst!!!!!!

Wir bestiegen den Zug, der uns nach Medina del Campo fuhr!

Die ersten Stunden waren entspannt, wir lernten uns kennen, obwohl, die meisten von uns aus Salamanca stammten, kannten wir uns persönlich noch gar nicht.

Es waren ganz unterschiedliche Menschen dabei. Da war Juanes, Sohn des Besitzers der Eisfabrik Barrio Garrido, Amador war Eigentümer eines Obstladen, aber die Mehrheit der Reisenden wohnten in den Dörfern nahe Salamanca.

Wir vier, Juan und ich, arbeiteten in der Buchhandlung Cervantes, Rodero in einer Lederfabrik und Juan – der mit den blauen Augen – ich glaube mich zu erinnern, dass er der Angestellte einer Versicherungsagentur war. Aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher.

Die hölzernen Sitze im Wagen waren hart, sehr hart. Und viel schlimmer waren die „Töne“, die manche Kollegen von sich gaben.In Medina del Campo mussten wir umsteigen. Es war ein größerer Zug, aber die selbe „Soße“ an Menschen, nur das Benehmen unseren Mitreisenden war schlimmer geworden…. Morgens, in Irun (Grenze zu Frankreich), mussten wir umsteigen. Die Qualität der Züge war nun besser. Ich konnte aber nicht einschlafen, die Nervosität war immer noch zu groß.

Wir merkten die Einsamkeit nicht

Meine Mutter ging mir nicht aus dem Sinn. Sie wollte alle ihre Kinder bei sich haben. Ich war der Erste, der das Familienhaus verließ, um im Ausland zu arbeiten.  Später erfuhr ich, warum meine Mutter das alles so schlimm fand, drei Brüder von ihr waren in den 1920er nach Argentinien ausgewandert und sie hatte sie nie wieder gesehen.

Irgendwann dann Ankunft in Colonia!! Mindestens 10.000 Menschen in verschiedenen Zügen und aus verschiedenen Ländern wie Spanien, Portugal, etc. Viel Zeit um darüber nachzudenken, wo wir waren, hatten wir nicht. Wir fühlten uns sicher in der Masse, aber die Gedanken waren in Salamanca, bei unseren Lieben.

Da kam der über zwei Meter große Pepe, der nach seinen Leuten für Siegen-Geisweid suchte.

Leute aus Salamanca Cazpullo brüllte er!!!  Wir sammelten uns, stiegen in den Bus und ab   ……. in die neue Heimat. Wir merkten die Einsamkeit nicht, denn bei so vielen Spaniern (die dann immer Spanisch untereinander sprechen), war es uns unmöglich, uns zu konzentrieren, um die Traurigkeit wahrzunehmen. Pepe war der Einzige, der sprach, laut und lauter. Trotzdem hörte ihm keiner zu.

Seine Aussprache war sehr schlecht, aber im Laufe der Zeit war er für uns Neulinge ein Balsam. Es tat so guuuut, seine spanischen „Töne“ zu hören!!!!

Wälder, Wälder, grüne Wälder!!!! Das war Alemania, nuestra nueva Heimat!!!!!

Die Reise vom Köln nach Siegen-Geisweid im wunderbaren Bus war ein Gedicht!!!

Nachmittags erreichten wir die für uns reservierte Unterkunft. Es waren alte Häuser aber sehr, sehr sauber. Pepe brüllte wieder: Cazpullo!! Vamos a comer!! („Jetzt gibt’s Essen!“). Die Kantine befand sich auf dem Werksgelände, nicht weit entfernt von unserer Unterkunft. In dem sehr schönen, sauberen Speisesaal hatten wir sogar Bedienung.  Wurst mit Bohneneintopf und zum ersten Mal boten sie uns einen „WackelPudding“ an, (Manjar de Dioses- Götterspeise). Alles war sehr schön.

Sehr müde von der Reise gingen wir früh ins Bett. Pepe sagte : Cazpullo, mañana halbacht hier!!!!! Wir hatten einen Termin um acht Uhr morgens!!!  Diese Zeit war für uns noch Mitten in der Nacht. Pepe blieb hart: „Aber mañana 7 Uhr30 hole ich Euch“. Wir hatten einen Termin beim Arzt. Das dauerte zwei bis drei Stunden. Alle kamen durch bis auf drei oder vier Mann und ich war einer von denen, die es nicht geschafft hatten, die Genehmigung zu bekommen, um in der heißen Ofen-Gießhalle  zu arbeiten. Irgendwas mit meinem Blut war nicht in Ordnung.

Wir durften das Werksgelände sauber halten, fegen, aufräumen, Mülleimer entleeren und ohne Schutzmasken riesige Eisenbahnwaggons von Kohlenbriketts befreien. Und in der vier Mann Kolonne war ich die treibende Kraft. Schnell arbeiten und dann schnell raus an die frische Luft.

Dieser Augenblick war wie eine Explosion

Unser „Chef“ sah aus wie ein Matrose der alten Garde, Pfeife im Mund, Mütze und eine tiefe Stimme. Er sprach nicht viel, aber hatte alles in Griff.

Eines Tags ist Pepe erschienen und sprach mit dem Chef: „Hola! Leute, wir brauchen einen Mann am Ofen…. also Heißbetrieb“. Unser Chef sprach mit Pepe und zeigte auf mich…. Pepe akzeptierte, er gab mir die Hand und wir gingen Richtung Stahlwerk Elektro-Ofen. Da, wo ich nicht arbeiten sollte.

Beim Meister Pewniak sprach Pepe mit ihm, und auf einmal hörte ich ein Wort, das ich schon auf Deutsch kannte: KLEIN! Pepe packte mich an der Hand kniete an meiner Seite und sagte zum Meister: Herr Pewniak, er ist nicht zu klein!!!!!  Nebenbei bemerkt: Meister Pewnick war nicht viel grösser als ich!!  Wenn ich zurückblicke, was alles passiert ist, denke ich „Es ist alles so gekommen, weil Meister Pewniak in Wahrheit nicht „größer“ war als ich“.

Als Pepe und ich die Ofenhalle betraten, begannen die anderen dort gerade, Sauerstoff zu blasen, um die in der Schmelze enthaltene Kohle zu verbrennen. Es waren zwei 3/4 Zoll Stahlrohre und der Sauerstoff wurde mit einem Druck von ungefähr 15 bis 20 bar geblasen. Beim Einführen in den Ofen vor Erreichen des Flüssigstahlbads musste das Sauerstoffventil geöffnet werden, um das Verstopfen der Rohre zu verhindern. Dieser Augenblick war wie eine Explosion, sobald der Sauerstoff Kontakt mit dem flüssigen Stahl bekam, knallte es. Und ich rannte aus der Halle weg. Meister Pewniack und Pepe lachten, als ich zurück kam. So wurde ich in die Ofen-Mannschaft aufgenommen.

Der erste Schmelzer Rainer Wanzek half mir sehr. Ich hatte in meiner Tasche ein kleines Wörterbuch, dort suchte ich den Namen der Legierungen, die in den Ofen eingegeben werden müssen: Si, CaO, FeCr, etc. um eine bestimmte Qualität zu erreichen. Aber am Anfang war Saubermachen angesagt. Jeden Morgen, bevor der Meister kam, wurde die Halle gefegt, manchmal zweimal am Tag, es musste alles richtig sauber sein.

Den Schmelzbericht schrieb der am Ofen arbeitende Schmelzer: Abschlacken, Elektrodenwechsel, Schlackenübel wechseln….

Ich notierte mir alles und später im Wohnheim versuchte ich die Notizen aus dem Schmelzbericht ins Spanische zu übersetzen.

Rainer Wanzek las es mir sehr oft vor und ich wiederholte es auf Deutsch. Das klappte nicht alles reibungslos, aber ich machte Fortschritte.

Die leeren Milchflaschen

Aus dieser Zeit sind mir vor allem die leeren Milchflaschen im Gedächtnis geblieben.

Ich beobachtete, dass leere Milchflaschen mit etwas Geld auf der Türschwelle lagen. Dann kam der Milchmann, nahm die leeren Flaschen und stellte zwei volle Flaschen an die Stelle. Sowas wäre bei uns in Spanien nicht möglich.

Ein paar Monate später, fehlte dieses Detail plötzlich.

Ich fragte mich: „Was zum Teufel ist passiert? Sind die Deutschen zu „Dieben“ geworden oder haben die „Ausländer“ (Spanier, Italiener, Polen usw.) das Geld von der Türschwelle genommen und einfach „geklaut“? Wie dem auch sei, dieses Phänomen wurde nie wieder gesehen, und es war eine Schande, denn ich erkannte, dass sich das Verhalten der Deutschen – Männer und Frauen – uns gegenüber geändert hatte. Das eine radikale Verschlechterung begann.

GASTARBEITER !!! Das war ein Wort voller Abwertung, mit dem sich die Deutschen untereinander verstanden, wenn sie von uns Ausländern sprachen !!!! Tut mir leid!! Von da an wurde dieses Wort als Schimpfwort verstanden. Wie zum Beispiel bei dieser „Mitgliederversammlung“ in der Siegerlandhalle, als ein Redner, der über spanische Gastarbeiter sprach, uns mit „Apfelsinenpflücker“ ansprach! Irgendwie tat das schon weh.

Der Deutschkurs!!!

Mein lieber Deutschlehrer ERHARD MARZINZIG:

Er liebte meine Heimat, liebte Calella bei Barcelona. Er beobachtete uns, wie wir Fußball spielten. Er sprach uns an: Hallo, wollt ihr nicht von mir Deutschunterricht bekommen? Ich bin Schullehrer und habe viel Zeit.

Vier Spanier hatten sich bereit erklärt, teilzunehmen. Nach drei Monaten blieb ich allein zurück. Es war hart, aber ich wollte die deutsche Sprache lernen. Es begann eine schöne Zeit. Er gab mir ein Poesiebuch mit den alten deutschen Dichtern: Goethe, Schiller, Heine, Fontane, Hölderlin, usw.

Ich sollte immer laut lesen oder besser gesagt SINGEN. So könnte ich mich selbst mir bei der Aussprache korrigieren. Er schenkte mir eine Geige, das war aber zu viel des Guten. Es fehlte mir das Talent… Ich liebe die deutschen Volkslieder: Am Brunnen vor dem Tore, die Loreley, Es zogen drei Burschen, usw. Aber zum Geigen reichte es nicht.

Er hat mir mit seinem Auto viele Städte in Nordrhein-Westfalen, wie Köln, Düsseldorf und andere Orte gezeigt.

Es war eine wunderschöne Zeit, aber nach vier Wochen üben habe ich ihm gestanden: Lieber Herr Marzinzig, ich schaffe nicht, nach nur zehn Minuten Geige spielen bin ich nass geschwitzt, wie ein Fisch…

Er hat es verstanden und wir haben uns darauf geeinigt, Lieder zu singen. Irgendwann hat er mir seine Geschichte erzählt. Er wohnte in Danzig und dann kamen die Russen. Er floh in den Westen, machte den ganzen Weg zu Fuß, über 200 km, was für ein Held. Dann blieb er in Siegen-Geisweid hängen.

Arbeit am Ofen

Die Arbeit am Ofen war schwer und die Ernährung nicht so gut, wie sie hätte sein können. Es waren schwere Zeiten, das Ganze war happig und ohne Essen läuft es schlecht. Besonders die Woche vor der Entlohnung war schwer.

Ich hatte mir etwas überlegt und in die Tat umgesetzt: Wieviel Tage hat der Monat: 30? Gut, ich kaufte mir 30 Dosen Schweinefleisch, das war nicht viel, aber mit dem Mittagsessen in der Kantine kam ich so sehr gut zu recht. Aber der Zufall spielte gegen mich. Eines Tages kriegte ich Besuch, Felix der Galizier, der ständig hungrig war und immer etwas Essbares suchte, egal wo er war. Bei mir entdeckte er eine leere Dose im Mülleimer und gab keine Ruhe, bis ich ihm sagte, wo die leere Dose herkam. Er versprach, den Kollegen nichts zu sagen. Aber typisch hungrige Spanier: Irgendwann kamen sie alle zusammen und riefen: HUNGER!!! Ich wusste Bescheid und holte meine Vorräte heraus, um sie meinen Freunden anzubieten. Das Ende vom Lied war: Am Monatsende hatten wir alle zusammen Hunger!

Mein erster Urlaub

Nach zweieinhalb Jahren entschied ich mich, meine Familie zu besuchen. Ich hätte früher gehen können, aber ich fürchtete, dass ich, wenn ich in Salamanca war, keine Kraft mehr finden würde, mich von meiner Mutter zu verabschieden, um wieder abzureisen.

Wir fuhren also mit dem Zug aus Siegen-Geisweid nach Köln, dann über Paris, und dann wieder nach Irun und weiter nach Medina del Campo, um von dort nach Salamanca zu fahren. Ich hatte viele Geschenke dabei, einen Plattenspieler und für meine Mutter ein Nähkästchen. Ich war glücklich, wieder in Salamanca zu sein.

Das Wiedersehen mit meiner Mutter war einmalig. Ich hatte Bedenken, sie könnte weinen, aber so war es nicht, wir umarmten uns und sie legte ihren Kopf auf mein Schulter und ich fühlte ein leises Wehklagen.

Die erste Frage war: Segis –  wann musst du wieder weg? Meine Schwester Adoracion sagte zu ihr: Mutter lass ihn jetzt!!!

Von dem Urlaub habe ich nur „schöne Momente“ in Erinnerung.

Ich wollte mich mit einigen Bekannten und Freunden am Plaza Mayor treffen. Meine Mutter sagte nur: Segis, heute wollen wir alle zusammen zum Abendessen, bitte sei gegen 21 Uhr zurück. Ich versprach es ihr. Aber vor lauter Fragen und Antworten verging die Zeit viel zu schnell. Auf einmal guckte ich auf die Uhr: Oh nein, sagte ich, meine Familie wartet auf mich zum Abendessen gegen 21 Uhr und jetzt ist schon 23 Uhr! Die Taxifahrt dauerte fünfzehn Minuten. Ich lief hoch, klingelte, mein Vater machte die Tür auf und sagte: Deine Mutter hatte Dich für 21 Uhr bestellt. Es sind alle hier und wir warten auf Dich!

Und er hat mir eine Ohrfeige gegeben. Das erste Mal im Leben, dass er mich geschlagen hatte, ich bin heute noch überzeugt, dass es ihm mehr weh tat als mir!!!! Er war ein ruhiger Geselle.

Mein zweiter Urlaub verlief nicht so schön.

Ich merkte, dass der Neid in in meiner Familie hauste. Typisch Spanisch. Ich hatte einige Problemen mit den Ehemännern der beiden Nichten. Aber das war purer Neid. Die Argumente waren: Wir kämen nur nach Salamanca, um anzugeben. Und die Autos sind alle nur gemietet, und so gut lebt man in Europa gar nicht. Ich hatte mir ein BMW700 von meinen Schwager Werner Kurde gekauft.

Bei meiner Hochzeit war der Kommentar meines zukünftigen Schwiegervaters: Wat, wat min Tochter well sich nem Uslänner bestare?! Dat gered doch net!!!!!! Bärbel Langenbach und ich heirateten 1971. Wir hatten etliche Probleme, aber nicht mit der Familie, sondern mit dem Standesbeamten Herr Mink und danach mit dem Pastor H. Biederbeck. Alle beide haben im meinem Beisein Bärbel davor gewarnt, eine Ehe mit mir, dem Ausländer einzugehen, denn die Gesetze schützen mehr oder weniger nur den Ehemann in ihrer Heimat. Gerade hatten wir unsere goldene Hochzeit!!!!!!!!

Ich hätte gerne alle beide zu unserer Goldenen Hochzeitstag eingeladen. Leider lebt weder der Pfarrer, noch der Standesbeamte noch.

So wurde ich erster Schmelzer

Dann irgendwann wurde ein erster Schmelzer am Ofen gesucht. Der Betriebschef rief mich in sein Büro: Sigi (das ist mein deutscher Name), ich brauche einen ersten Schmelzer am Ofen, das war der größte im Stahlwerk. Du bist der geeignete Mann, aber dazu musst du Deutscher werden. Ich war einverstanden. Wir hatten alle erforderlichen Unterlagen eingereicht, ich brauchte nur noch einen Termin bei der Militärbehörde in Siegen. Es lief alles gut, sämtliche Urkunden waren in Ordnung. Bis die medizinische Untersuchung beendet war, da sagte der Beamte: Sie haben noch 6 Zentimeter Zeit, um Soldat in Deutschland zu werden.

Der deutsche Soldat muss mindestens 1,70 m messen!

Ich weiß nicht mehr, ob ich froh war oder nicht. Tatsache ist, ich würde mit meinen 165 cm in Deutschland bleiben, als Spanier… So wurde ich erster Schmelzer.Im Jahr 1976 habe ich mein Industrie Meistertitel geschafft. In der Presse wurde bekannt gegeben, dass das der erste Ausländer geschafft hatte. Das war ein Meilenstein in meinem Leben in Deutschland.

Einen letzten Wunsch habe ich noch. Wenn ich sterbe, möchte ich verbrannt werden und meine Asche soll in den Fluss Tormes in Salamanca gestreut werden. Meine Frau ist einverstanden und sie wird dies für mich durchführen.

Deutschland hat mir vieles gegeben, ich bin glücklich gewesen, habe eine wunderschöne Familie, aber Salamanca ist meine PATRIA, meine Heimat.

Ich würde alles nochmals genauso machen. Ich liebe Deutschland und habe mich bemüht, ein „guter Deutscher zu sein“ – der fehlenden Zentimenter meiner Körpergröße zum Trotz. Ich habe mein Bestes für dieses Land gegeben, bin immer gut mit den Menschen hier ausgekommen.

MEIN FAZIT:  ICH HÄTTE ES IN SPANIEN NICHT BESSER GEHABT ODER GEMACHT!!!!

Danke!

Zum Abschluss noch mein Werdegang im Stahlwerk:

1. Schmelzer am Ofen an allen E.-Öfen
2. Oberschmelzer
3. Zweitmeister
4. Schichtmeister an den neuen „Riese“ E.Ofen
5. Obermeister
6. Betriebsabteilungleiter, E.Ofen 6, PML, (Pfannenmetalurgische Linie:Pfannenofen,EntgasungsanlageRH)
7. Betriebsleiter
8. VOD im Betrieb genommen am 2.2.1992

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Sigi

Sigi Gomez wurde 1942 in Spanien geboren. Mit dem bekannten Dichter Gabriel y Galán verbindet ihn nicht nur die Herkunft aus Kastilien, sondern auch die Leidenschaft zur Literatur. Mit 17 Jahren arbeitete er in einer Buchhandlung und träumte von einem Leben mit Büchern. Doch um seine Familie finanziell zu unterstützen und Schulden zu bezahlen, ging er 1962 nach Europa. In Deutschland machte er eine Karriere im Stahlwerk. Sigi Gomez war der erste „Ausländer“, der in Siegen einen Industrie-Meistertitel erhielt. Die deutsche Dichtung lernte er durch einen Grundschullehrer in Geisweid lieben. Denn die Liebe zur Literatur hat Sigi Gomez nie verlassen, hier ist seine Geschichte.

Impressionen aus meinem Leben... 

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