Viktoria erzählt
Abschied von Kirgisien
Sie lehnt sich zurück und schließt ihre Augen.
„Erinnere dich an das, was du verändern möchtest, warum du grade hier bist“ sagt eine sanfte, fröhlich klingende Stimme. Viktoria schießen sofort all die Erinnerungen durch den Kopf aus der Zeit mit ihrer 7-jährigen Tochter im Krankenhaus. Sie fühlt wieder die Schwere auf der Brust. Als läge ein riesiger Steinbrocken auf ihr. Sie fühlt wieder den Moment, im Juni, die Hitze im Arztzimmer mit sperrweit geöffnetem Fenster. Wie durch einen dumpfen Filter hört sie wieder die Worte der Ärztin, die zögerlich ausspricht: “Leider haben sich die Ergebnisse bestätigt, ihre Tochter…“
Alles wird bald anders sein
„Viktoria, bist du bereit?“ fragte die sanfte Stimme erneut. „Ja, ich glaube schon.“
Warme Finger berühren ihr Handgelenk und heben die Hand an. „Konzentriere dich mal auf das Gefühl auf deiner Brust. Wenn ich deine Hand fallen lasse, bist du in dem Moment, als dieses Gefühl das erste Mal in deinem Leben entstand.“
Was passiert jetzt? Sie ist ganz verwirrt. Gefühle steigen von ihrer Brust bis zu Hals. Tränen schießen aus ihren Augen. Sie spürt wieder diesen Schmerz.
Der staubige Geruch liegt wie so oft in der Luft. Sie steht im Hof. Jede Ecke hat sie mit ihren Freunden dort durchstöbert. Die drei Mehrfamilienhäuser sehen aus die wie Drillinge. Sie sind identisch bis auf die Vorhänge in den Fenstern und die Bepflanzung des Vorgartens. Das vierte Haus im Hof ist nie zu Ende gebaut worden. Solch ein Glück, denn es war der schönste Abenteuerspielplatz.

Viktoria, Olpe, 2021. Fotografiert von Dirk Vogel
Von außen schaut das 11jährige Mädchen die Fenster ihrer Wohnung an. Es ist alles so vertraut, alles an seinem Platz. Die Bank vor dem Eingang, die Rosen im Vorgarten, die ihre Oma gepflanzt hatte. Niemand hatte so schöne Rosen wie ihre Oma. Die weißen und rosafarbenen Hibiskus Rosen dufteten besonders intensiv, so dass man ihren Duft im Vorbeigehen in die Nase bekam und den ganzen Tag mit sich trug.
Viktoria weiß, dass bald alles anders sein wird. Sie dreht sich um und sieht die Berge mit weißen Spitzen, die aussehen, als hätten sie weiße Mützen auf. Diese wunderschönen Berge, die sie jeden Morgen aus ihren Zimmerfenster begrüßen. Sie stehen stabil da und verändern nur ihr äußeres Kleid, je nach Jahreszeit. All das wird bald nicht mehr da sein für sie. Ihre Eltern haben endlich die Erlaubnis bekommen. Sie haben so lange darüber gesprochen und so sehr drauf gewartet. Sie wollen umziehen in ein anderes Land. Papa möchte zu seinen Verwandten ziehen, in das Ursprungsland seiner Vorfahren.
In Deutschland leben
Sie weiß nicht, wo Deutschland ist und was es bedeutet, dort zu leben. „Heißt es, sie wird ihre geliebte Oma und Uroma verlassen und nie wieder sehen?“ Und kommt der Hund Tobi eigentlich mit? Wie sind die Menschen in dem Land? Wird sie dort Freunde finden? Wird sie jemals wieder nach Kirgisien zurückkommen?“
In der Schule war mal ein Mädchen aus Deutschland. Das Mädchen zog vor einigen Jahren aus dem Dorf dorthin. Ihre Kleider waren so anders, so wie man es nur aus ausländischen Filmen kennt. Mit ihren weißen Turnschuhen mit drei grünen Steifen, ihrer gebleichten Jeans und ihrem roten Sportpullover mit dem Aufdruck aus fremden Buchstaben war sie ein Star. Sie hatte Kaugummis und Bonbons mit, die mit ihren knallbunten Farben nur so lockten, sie auch mal zu probieren. Viele Kinder versammelten sich um sie. Sie war definitiv das coolste und bestgekleidete Mädchen, das Viktoria bis zu dem Moment gesehen hatte.
Koffer und Taschen stehen im Flur. Jetzt heißt es Abschiednehmen von Oma und Uroma. „Wo werden wir dann wohnen?“ fragt Viktoria ihren Vater. Er wirkt verloren und zuckt nur fragend mit seinen Schultern.
Viktoria sieht alles wie im Nebel. Alles wirkt so groß und hell. Viele Menschen, sie sprechen eine Sprache, die sie nicht versteht. Sie fühlt solch ein schweres, drückendes Gefühl. Ihr kommen Tränen, immer mehr, sie kann sich kaum halten und weint immer lauter. Ihre Eltern sprechen sie an, aber sie scheint sie nicht zu hören. Gedanken kreisen in ihrem Kopf: „Hier möchte ich nicht sein“ „Ich möchte zu meiner geliebten Oma nach Hause“ „Ich will nach Hause“.
Märchenhaft
Durch die Scheibe des Autos sieht sie alles leuchten. In der Dämmerung spiegelt sich das Licht der schönen, gelben Lichter im Schnee. So viele Lichter schmücken die Straßen und Tannenbäume. Langsam spürt Viktoria, dass sie wieder gut atmen kann und dass die Schwere in der Brust verfliegt. Es glitzert alles um sie herum und es kommt ihr vor, wie in einem Märchen. Sie realisiert, dass sie jetzt in Deutschland ist und in ihr erweckt sich eine Neugier. „Ist Deutschland tatsächlich so märchenhaft?“
Viktoria reißt die Augen auf. „Was war das überhaupt?“ „Was haben diese beiden Situationen überhaupt miteinander zu tun?“. Sie hört wieder die sanfte Stimme. „Viktoria, überlege mal, welches Gefühl war bei der Diagnose deiner Tochter und bei deinem Umzug gleich?“
„Hm, ich fühlte mich in beiden Situationen verloren, unsicher und ohnmächtig.“ „Bravo, Viktoria“. „Karin… und was mache ich denn jetzt damit?“ „Jetzt fängt die Arbeit erst an, diese gestauten Gefühle zu lösen, so dass sie dich in deinem Leben nicht mehr blockieren. Let´s go!“

Viktoria
Viktoria ist in Kasachstan geboren und wuchs in Kirgisistan auf. Mit 11 Jahren kam sie mit ihrer Familie in das Ursprungsland ihrer Vorfahren, nach Deutschland. Viktoria arbeitet als Beraterin und Coach für Kinder und Eltern und hilft ihnen, psychische und soziale Schwierigkeiten zu überwinden. Ihr Ziel ist es, einen Ratgeber für Eltern, deren Kind schwer erkrankt ist, herauszubringen. Wenn sie nicht in ihrer Praxis tätig ist, reist Viktoria. Sie entdeckt gerne unbekannte Orte und lernt Kulturen und Menschen kennen.